Schindlers Liste
Gebräuchen folgten, anders rochen, andere Gewohnheiten hatten, zusammenleben zu müssen. Mütter kreischten, Väter sogen an hohlen Zähnen, schüttelten den Kopf und bemerkten, alles könnte noch viel schlimmer sein. Am 20. März wurde die Übersiedlung für beendet erklärt. Wer sich jetzt noch außerhalb des Gettos aufhielt, war vogelfrei. Drinnen lebte man jedenfalls noch, und vorderhand in Frieden.
Die dreiundzwanzig Jahre alte Edith Liebgold bekam mit ihrer Mutter und ihrem Säugling ein Zimmer im Erdgeschoß zugeteilt. Seit achtzehn Monate zuvor Krakau besetzt worden war, hatte tiefste Verzweiflung ihren Mann befallen. Er gewöhnte sich an, gedankenverloren umherzuwandern; offenbar plante er, sich in den Wäldern ein sicheres Versteck zu suchen.
Von einer solchen Wanderung kam er nicht mehr zurück. Die Witwe Liebgold konnte von ihrem Fenster hinter dem Stacheldrahtzaun die Weichsel sehen. Wollte sie andere Teile des Gettos aufsuchen, vor allem das Krankenhaus in der Wegierskastraße, mußte sie Plac Zgody überqueren, den Friedensplatz, den einzigen Platz, den es im Getto gab.
Am zweiten Tag ihres Aufenthaltes im Getto entging sie um Haaresbreite einem SS-Kommando, das Schneeschaufler für die Stadt rekrutierte. Es hieß, daß nicht alle, die auf diese Weise zur Arbeit geholt wurden, zurückkamen, aber Edith fürchtete mehr als dies, daß sie auf dem Weg etwa zur Apotheke aufgegriffen werden könnte, eine Viertelstunde bevor sie ihr Kind füttern wollte. Sie ging also mit einigen Freundinnen zum Arbeitsamt in der Hoffnung, Schichtarbeit zugeteilt zu bekommen; die Mutter mochte dann während ihrer Abwesenheit das Kind hüten.
In den ersten Tagen herrschte auf dem Arbeitsamt starker Andrang. Der Judenrat hatte jetzt seine eigene Polizei, den Ordnungsdienst (ÖD), der innerhalb des Gettos für Sicherheit und Ordnung sorgen sollte. Ein junger Mann mit Mütze und Armbinde ließ die Arbeitsuchenden vor dem Arbeitsamt eine Schlange bilden. Edith Liebgold und ihre Bekannte waren gerade mit einem Schub anderer eingelassen worden und in lärmender Unterhaltung begriffen, als ein kleiner, ältlicher Mann im braunen Anzug auf sie zutrat, der es offenbar auf diese lebhafte Gruppe abgesehen hatte, wenngleich es anfangs so aussah, als wolle er sich nur an Edith heranmachen. »Sie brauchen hier nicht zu warten. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Arbeit in einer Emailwarenfabrik in Zablocie verschaffen.«
Er ließ dieses Angebot wirken. Zablocie lag außerhalb des Gettos, das hieß, man würde Gelegenheit zu Tauschgeschäften mit polnischen Arbeitern haben. Er suchte zehn gesunde Frauen für die Nachtschicht.
Die jungen Frauen schnitten Grimassen, sie taten, als wollten sie sich das überlegen. Als ob es da was zu überlegen gäbe! Die Arbeit sei nicht schwer, versicherte er, sie würden angelernt.
Er sei Abraham Bankier und der Personalchef. Der Eigentümer sei selbstverständlich Deutscher. Was für eine Sorte Deutscher? wollten sie wissen. Bankier lächelte breit, als wollte er ihnen die schönsten Hoffnungen machen. Kein übler Bursche, versicherte er.
Am Abend ging Edith Liebgold, geleitet von einem OD-Mann, mit ihren Gefährtinnen nach Zablocie. Unterwegs erfuhr sie, daß es in der Emailfabrik für die Arbeiter eine kräftige Suppe gebe. Geschlagen werde nicht, es sei dort ganz anders als in Beckmanns Rasierklingenfabrik.
Ungefähr wie bei Madritsch. Madritsch sei in Ordnung, hieß es, und Schindler auch.
Die neue Nachtschicht wurde am Eingang von Bankier in Empfang genommen und nach oben vor das Direktionsbüro geführt. Eine tiefe, grollende Stimme forderte die Frauen auf, einzutreten. Der Direktor saß auf der Schreibtischkante und rauchte. Sein dunkelblondes Haar war ordentlich gebürstet, er trug einen Zweireiher und eine seidene Krawatte. Er sah aus wie jemand, der eine Verabredung zum Abendessen hat, aber vorher noch etwas Wichtiges erledigen will. Er war groß und kräftig und noch jung. Von dieser nordischen Erscheinung erwartete Edith einen Vortrag über die Bedeutung der Rüstungsindustrie und die Notwendigkeit, die Produktion zu erhöhen. Statt dessen sagte er auf polnisch: »Ich möchte Sie hier gern selber begrüßen. Ich erweitere den Betrieb und brauche daher mehr Arbeitskräfte.«
Er blickte beiseite - das interessierte die Frauen vermutlich nicht. Und dann fuhr er unvermittelt fort, ohne sie durch eine Geste, einige Worte oder sonstwie auf das vorzubereiten, was er ihnen sagen wollte: »Wenn
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