Schindlers Liste
Lodz 1939 nach Krakau gebracht wurden, wies man sie in die Wohnung ein, in der auch Pfefferberg wohnte.
Poldek war, ebenso wie Mila, der letzte seiner Familie. Seine Mutter, die ehedem Schindlers Wohnung in der Straszewskiegostraße ausgestattet hatte, war mit ihrem Mann ins Getto von Tarnow gekommen und von dort nach Belzec, wo sie, wie sich später herausstellte, ermordet wurden. Seine Schwester und sein Schwager hatten es mit arischen Papieren versucht und waren im Pawiak-Gefängnis in Warschau verschwunden. Er und Mila hatten nur noch einander. Vom Temperament her waren sie sehr verschieden, Poldek der geborene Anführer und Organisator, der jederzeit frisch von der Leber weg redete, Mila zurückhaltend und besonnen, jetzt, angesichts des Schicksals, das ihre Familie betroffen hatte, noch stiller als ohnedies. Eine solche Verbindung wäre in friedlichen Zeiten vortrefflich gewesen. Mila hatte einen Hang zur Ironie und konnte ihren Mann bremsen, wenn er wieder einmal einen Redeschwall von sich gab. Doch an diesem Tag, diesem fürchterlichen Tag, hatten sie eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit.
Zwar war Mila bereit, sollte sich die Gelegenheit ergeben, das Getto zu verlassen, sie konnte sich auch unter Partisanen in den Wäldern sehen, doch die Flucht durch den Abwasserkanal schreckte sie über alle Maßen. Poldek hingegen war schon öfter auf diesem Weg aus dem Getto hinaus und wieder hereingekommen, obwohl das nicht ungefährlich war, denn die Polizei lauerte manchmal am Ende des Kanals. Auch sein guter Bekannter, Dr. H., hatte von dem Abwasserkanal als von einem Fluchtweg gesprochen, der am Tag der Räumung des Gettos unbewacht sein mochte. Nur mußte man die frühe Winterdämmerung abwarten. Ein Einstieg in den Kanal lag ganz dicht beim Haus des Arztes. Man wandte sich, war man eingestiegen, nach links und ging unter dem nicht zum Getto gehörenden Teil vom Podgorze bis zum Austritt des Kanals am Weichselufer unweit der Zatorskastraße.
Gestern hatte Dr. H. ihm gesagt, er und seine Frau würden es jedenfalls versuchen und ob Pfefferbergs sich nicht anschließen wollten? Poldek konnte ihm noch keine Zusage geben. Mila befürchtete nicht zu Unrecht, daß die SS den Kanal fluten oder vergasen oder auch schon die bloße Möglichkeit einer Flucht vereiteln könnte, indem sie vor der Dämmerung in der Jozefinskastraße erschien.
So warteten sie denn auf dem Dachboden ab, wie die Dinge sich entwickelten. Auch die Nachbarn warteten, soweit sie es nicht vorgezogen hatten, freiwillig mit ihren Bündeln und Koffern zum Sammelplatz zu gehen, weil sie die Spannung nicht ertrugen, die durch den ständigen Wechsel der Geräusche verursacht wurde: In der Ferne wurde geschrien und geschossen, hier herrschte eine unheimliche Stille, in der man die alten Balken des Hauses knacken hörte. Um die trübe Mittagsstunde kauten Pfefferbergs an ihrer Brotration — 300 Gramm pro Tag. Dann hörte man wieder aus der Richtung Wegierskastraße Schießen, und gegen die Mitte des Nachmittags wurde es wieder ruhig.
Jemand versuchte vergeblich, die defekte Wasserspülung zu betätigen. Man hätte wirklich glauben können, dieser Teil der Straße sei übersehen worden. Der Nachmittag wollte nicht enden, allerdings meinte Poldek, es sei nun dämmrig genug, die Flucht zu wagen. Während der jetzt herrschenden Ruhe wollte er sich noch einmal mit Dr. H. beraten. Mila bat ihn zu bleiben, doch sagte er, er werde die Durchgänge benutzen, welche die Häuser untereinander verbanden. Auch sei es hier ja *· jetzt ganz ruhig, und er werde schon keiner Patrouille in die Hände laufen. In fünf Minuten sei er zurück.
Er ging über die Hintertreppe in den Hof und trat zum ersten Mal beim Arbeitsamt auf die Straße, die er rasch überquerte. In den gegenüberliegenden Häusern stieß er auf Menschen, die gänzlich verwirrt berieten, was zu tun sei, und nicht wußten, was vorging. Er wandte sich nach der Krakusastraße und trat gegenüber dem Haus ins Freie, in dem der Arzt wohnte. Das Haus war leer, doch fand Pfefferberg im Hof einen benommenen älteren Mann, der erzählte, das Sonderkommando sei bereits dagewesen; der Arzt und seine Frau hätten sich anfangs versteckt und seien dann in den Abwasserkanal gestiegen. »Die kommen wieder«, sagte der Mann. Poldek nickte, er hatte jetzt einige Aktionen erlebt und kannte die Taktik der SS. Er ging auf demselben Weg zurück, auf dem er gekommen war, kreuzte wieder unbemerkt die Straße, fand sein Haus
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