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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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sehr!
    Wahrscheinlich
ist es schlecht von mir, dass ich mich gegen die Betreuung der Verwundeten und
für das Theater entschieden habe. Aber kann die Kunst den Menschen nicht
genauso gut eine Hilfe sein? Bin mir nicht sicher, muss darüber noch mal nachdenken.
Aber dort auf den Proben ist es so spannend! Im Lazarett dagegen immer
dasselbe.
    Beim
Überlesen des letzten Absatzes dachte ich gerade: Was bin ich doch egoistisch!
Habe allen Grund, mich vor Tala zu schämen.
    Heute nach
der Probe, im allgemeinen Aufbruch, erzählte Kostrow die lustige Geschichte,
wie während der Dreharbeiten zur Verteidigung von Sewastopol auf einmal
Bauern aus der Gegend mit Bittgesuchen und Beschwerden ankamen. Sie hatten die
Schar von Leuten in betressten Uniformen gesehen und gemeint, es müssten hohe
Beamte sein. Auch Kostrow, der eine Generalsuniform trug, wurde von einer alten
Frau bedrängt, die unter Tränen irgendeine Bitte vortrug. Sie wollte einfach
nicht glauben, dass er gar kein General war. Um den Abbruch der Dreharbeiten zu
verhindern, musste man die Bauern von der Polizei vertreiben lassen.
    Zu Hause
nach dem Abendessen erzähle ich von der Probe, und Papa fragt: »Wisst ihr, was
in dem Stück das Entscheidende ist?« - »Die Entlarvung des Regimes?« - »Nein.«
- »Die stumme Szene?« - »Nein.« - »Ja, was denn dann?« - »Das Entscheidende
ist, wie Bobtschinski dem Zaren ausrichten lässt, es gebe einen Pjotr
Iwanowitsch Bobtschinski.« - »Warum soll das das Entscheidende sein?« - »Das
kann man nicht erklären. Das weiß man, oder man weiß es nicht.«
    Mitunter
kann Papa ein ziemliches Ekel sein!
    Ich küsse
dich, Aljoscha! Gute Nacht!
     
    3. Oktober
1915. Samstag
    Lange her,
dass ich zum letzten Mal hier etwas eintrug! Finde einfach keine Zeit dafür.
Bin die ganze Zeit mit Aljoscha zusammen und im Theater. Tue fast nichts mehr
für die Schule. Da muss ich mich unbedingt ranhalten, sonst gibt es schlechte
Noten, und das wäre peinlich!
    Langsam
finde ich in meine Rolle hinein. Zu Hause laufe ich in Kostüm und Maske herum.
Als die Njanja mich so sah, lachte sie. Das machte mich wütend, ich schmiss die
Tür. Dieses dumme alte Weib!
    Versuche
mich in die Rolle zu vertiefen, den Charakter der Figur zu ergründen. Ich bin
ja in Chlestakow verliebt. Wie komme ich bloß dazu? Was ist der Grund? Er ist
doch erbärmlich, ein Blender, ein Säufer! Ein Idiot, letzten Endes! Es ist so
unwahrscheinlich! Aljoscha - ja, den liebe ich. Das ist mir begreiflich. Er ist
so ganz anders. Klug, charmant, taktvoll und zärtlich. Schön und männlich.
Dieser schöne Mund, die Nase, die Stirn. Und erst die Hände! Allein in die
Hände könnte man sich verlieben!
    Aber für
die Arbeit an meiner Rolle ist das alles untauglich. Ich brauche irgendwelche
»Angriffspunkte«. Etwas, das mir nahe und verständlich genug ist, um mich
»hineinverlieben« zu können.
    Und wieder
stelle ich mir Petrow vor, was unser Chlestakow ist - sein dümmliches Gesicht
mit den abstehenden Ohren - es kommt nichts heraus dabei. Nein, das wird
nichts, denn ich denke die ganze Zeit nur an Aljoscha, der heute bei uns zu
Abend essen wird. Ich sitze am Fenster und blicke auf die Straße: Herbst,
Kälte, Regen, Pfützen.
    Und
plötzlich überfällt mich die idiotische Idee, ich könnte im nächsten Moment
sterben, und dieses Pflaster da unten, der halb entlaubte Baum, der nasse Hund,
der vorüberläuft, und dieser regenverhangene Himmel über Rostow - das wäre es
dann gewesen. Mein ganzes Leben. Was für ein Albtraum...
    Da kommt
er!
    Ich
schreibe abends zu Ende.
    Aljoscha
hat interessant davon erzählt, wie er mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder
bei Kriegsausbruch in Deutschland war und alle Russen nach der Schweiz
ausgewiesen wurden. Leute, die dort Jahre gelebt hatten, bekamen vierundzwanzig
Stunden Zeit, um zu packen! Mit dem Schiff überquerten sie den Bodensee, der
große Katschalow war mit an Bord! Dann ging es weiter über Italien und auf dem
Seeweg bis Griechenland.
    Wo er
schon überall war! Ich dagegen bin noch nie aus diesem verfluchten Rostow
rausgekommen. Leonardos Abendmahlfresko an der Wand eines Mailänder
Klosterspeisesaals, so weiß er zum Beispiel zu berichten, stirbt langsam vor
sich hin! Es ist mit Ölfarben gemalt, und die Farbschicht löst sich in dünnen
Blättchen vom Untergrund, rollt sich und fällt ab. »Wie furchtbar!«, entfuhr es
mir. »Tausende Menschen sterben in den Schützengräben, und ihr regt euch auf
über Farben!«,

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