Schismatrix
Kanzler. Sie ist zu kostbar.«
Lindsay öffnete den Käfig. Die Ratte - abrupt aus der Stabilität ihrer Routineabläufe gerissen - kauerte sich neben das Stahlröhrchen ihres Trinkwassertropfs, und ihre sehnigen, pelzbedeckten Extremitäten bebten.
Lindsay bewegte die behandschuhten Finger vor der Käfigöffnung. »Aber, hab doch keine Angst«, sagte er sehr ernst zu der Ratte. »Da draußen liegt eine ganze Welt.«
Ein uralter, fast erloschener Reflex kippte im Hirn der Ratte. Mit einem scharfen Pfeifen katapultierte sich das Tier quer durch den Käfig auf Lindsays Hand zu und strampelte und biß in konvulsivischer Raserei auf sie ein. Vera stieß ein erschrockenes Keuchen aus und sprang gleichfalls vorwärts. Lindsays Verhalten hatte sie schockiert, und die Reaktion der Ratte hatte sie mit Entsetzen erfüllt. Lindsay winkte sie mit der anderen Hand beiseite, dann hob er die andere Hand und sah mitleidvoll zu, wie die Ratte ihn anzugreifen versuchte. Unter dem zerfetzten rechten Handschuh schimmerten starre Prothesenfinger in schwarzem und kupfernem Flechtwerk.
Er ergriff das zuckende Tier mit sanfter Festigkeit und achtete sorgsam darauf, daß es sich die Zähne nicht verletzte. »Das Gefangensein hat einen Hirnblock aufgebaut, ihr Hirn ist zementiert«, sagte er. »Es wird lange dauern, bis die Gitterstäbe hinter ihren Augen wegschmelzen werden.« Er lächelte. »Aber glücklicherweise gibt es Zeit im Übermaß.«
Die Ratte hörte auf, sich zu wehren. Sie lag keuchend in den ekstatischen Wonnen irgendeiner nagetierhaften Gottesbegegnung. Behutsam setzte Lindsay sie auf die Tischplatte neben den Börsenmonitor. Das Tier rappelte sich auf die rosa Füßchen und begann aufgeregt auf der eigenen Spur in den Begrenzungen seines vormaligen Käfigs auf und ab zu laufen.
»Sie kann ihre Routine nicht ändern«, sagte Vera heftig. »Ihre Kapazitäten sind erschöpft.«
»Unsinn«, fuhr Lindsay sie an. »Das Tier muß nur einen Prigogine-Sprung auf eine neue Verhaltensebene schaffen.« Die ruhige Sicherheit, mit der er seine Überzeugung hinstellte, erweckte Furcht in ihr. Etwas davon muß sich in ihrem Gesicht abgezeichnet haben. Er zog sich den zerfetzten Handschuh ab. »Hoffnung ist unsre Pflicht«, sagte er. »Du darfst nie aufhören zu hoffen.«
»Jahrelang hatten wir gehofft, daß wir Philip Constantine heilen könnten«, sagte Vera. »Jetzt wissen wir es besser. Wir sind bereit, ihn an dich auszu ... tauschen, gegen einen Schutzbrief und Sicherheit für uns selbst.«
Lindsay schaute sie ernst an. »Das ist Brutalität«, sagte er.
»Er war dein Feind«, sagte Vera. »Wir dachten, wir sollten Konzessionen machen, wiedergutmachen.«
»Für mich bist du die Chance einer Wiedergutmachung.«
Es funktionierte. Also dachte er immer noch an Vera Kelland.
»Aber täuscht euch nicht«, sagte er. »Ich biete keine echte Gegenleistung. Czarina-Kluster muß eines Tages zugrundegehen. In dieser Ära können sich Nationen nicht mehr halten. Staaten können sich nicht halten. Nur die Menschen werden bleiben, ihre Pläne, ihre Hoffnungen ... Ich kann euch nur das anbieten, was ich habe. Ich habe keine Sicherheit. Ich habe Freiheit.«
»Das ist Posthumanismus«, sagte sie. »Eure Staatsreligion. Natürlich werden wir uns anpassen.«
»Ich hätte geglaubt, du hast deine ganz persönlichen Überzeugungen, Vera. Du bist doch Galaktizistin.«
Sie fuhr sich unbewußt sacht mit den Fingern über die Kiemensäume an ihrem Hals. »Meine Politausbildung fand in der Observationskugel statt. Auf Fomalhaut. In der Gesandtschaft.« Sie schwieg. »Das Leben dort hat mich stärker verändert, als du wissen könntest. Und es gibt da Dinge, die ich nicht erklären kann.«
»Irgend etwas ist hier in diesem Raum«, sagte er.
Sie war wie betäubt. »Das stimmt«, platzte sie heraus. »Kannst du es spüren? Das können nur wenige.«
»Was ist es? Irgendwas von den Fremden von Fomalhaut? Gasblasen?«
»Sie haben keine Ahnung davon.«
»Aber du! Also, sag mir, was es ist!«
Sie hatte sich zu weit vorgewagt, jetzt noch einen Rückzug versuchen zu können. Zaudernd begann sie zu reden. »Zuerst ist es mir in der Gesandtschaft aufgefallen. Die Botschaft schwebt in der Atmosphäre von Fomalhaut-Vier, einem planetarischen Gasriesen, so wie Jupiter... Wir mußten dort im Wasser leben, um die Schwerkraft zu überstehen. Man hat uns zusammengeschmissen, Mechanisten und Shapers; wir mußten uns in die Botschaftsräumlichkeiten teilen, weil es
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