Schlachthof 5
er wisse es nicht. Er versuchte nur eben, sich warm zu halten.
»Alle echten Soldaten sind tot « , sagte sie. Das war wahr. So geht das.
Eine andere wahre Sache, die Billy während seiner Bewußtlosigkeit in Vermont sah, war die Arbeit, die er und die anderen in dem Monat, bevor die Stadt zerstört wurde, zu verrichten hatten. Sie putzten Fenster, fegten Fußböden, machten Klosetts sauber, verpackten Einmachgläser in Kisten und versiegelten Pappkartons in einer Fabrik, die Malzsirup herstellte. Der Sirup war mit Vitaminen und Salzen angereichert. Er war für schwangere Frauen bestimmt.
Der Sirup schmeckte wie dünner, mit Hickoryrauch versetzter Honig, und jedermann, der in der Fabrik arbeitete, aß ihn heimlich den ganzen Tag löffelweise. Sie waren nicht schwanger, aber sie brauchten auch Vitamine und Salze. An seinem ersten Arbeitstag löffelte Billy keinen Sirup, aber viele andere Amerikaner taten es.
An seinem zweiten Tag löffelte Billy ihn. Über die ganze Fabrik verteilt waren Löffel versteckt, auf Dachsparren, in Schubladen, hinter Heizkörpern und so fort. Sie waren hastig versteckt worden von Personen, die Sirup gelöffelt hatten und irgend jemand hatten kommen hören. Löffeln galt als ein Verbrechen.
An seinem zweiten Tag machte Billy hinter einem Heizkörper sauber und fand einen Löffel. Hinter ihm stand ein Faß mit Sirup zum Abkühlen. Der einzige Mensch, der Billy und seinen Löffel sehen konnte, war der arme, alte Edgar Derby, der draußen ein Fenster putzte. Der Löffel war ein Eßlöffel. Billy steckte ihn in das Faß, drehte ihn um und um und machte ein pappiges Lutschbonbon in Stäbchenform daraus. Er steckte es in den Mund.
Ein Augenblick verging, und dann erschütterte jede Zelle in Billys Körper ihn mit heißhungriger Dankbarkeit und mit Beifall.
Es klopfte ein paarmal an die Fabrikfensterscheibe. Derby war dort draußen, er hatte alles gesehen. Er wollte auch etwas von dem Sirup.
Also machte Billy ein Lutschbonbon für ihn. Er öffnete das Fenster und steckte es in des armen, alten Derbys aufgesperrten Mund. Ein Augenblick verging — und dann brach Derby in Tränen aus. Billy schloß das Fenster und versteckte den klebrigen Löffel. Jemand kam.
8
Die Amerikaner im Schlachthof hatten zwei Tage lang, bevor Dresden zerstört wurde, einen sehr interessanten Besucher. Es war Howard W. Campbell jr., ein Amerikaner, der ein Nazi geworden war. Campbell war es, der die Monographie über das erbärmliche Verhalten der amerikanischen Kriegsgefangenen geschrieben hatte. Er stellte nun keine weiteren Untersuchungen über Kriegsgefangene an. Er war in den Schlachthof gekommen, um Leute für eine deutsche militärische Einheit, »das amerikanische Freikorps « genannt, zu rekrutieren. Campbell war der Erfinder dieser Einheit, die seiner Befehlsgewalt unterstellt war und die nur an der russischen Front kämpfen sollte.
Campbell war ein durchschnittlich aussehender Mann, aber er war extravagant mit einer von ihm selbst entworfenen Uniform kostümiert. Er trug einen weißen Zehngallonenhut und schwarze, mit Hakenkreuzen und Sternen verzierte Cowboy Stiefel. Er war in ein blaues Strumpfkleid eingehüllt, das gelbe Streifen hatte, die von seinen Achselhöhlen bis zu den Fußknöcheln verliefen. Auf seiner Achselklappe war die Silhouette von Abraham Lincolns Profil auf hellgrünem Feld zu sehen. Campbell trug eine breite rote Armbinde mit einem blauen Hakenkreuz in einem weißen Kreis, Er erklärte jetzt diese Armbinde in dem Zementblock von Schweinestall.
Billy Pilgrim spürte ein heftiges Sodbrennen, denn er hatte den ganzen Tag lang bei der Arbeit Malzsirup gelöffelt. Das Sodbrennen ließ ihm Tränen in die Augen steigen, so daß sein Bild von Campbell durch schwankende Salzwasserlinsen verzerrt war.
»Blau ist für den amerikanischen Himmel « , erklärte Campbell. »Weiß für die Rasse, die den Kontinent erschlossen hat, die die Sümpfe entwässert, die Wälder gerodet und die Straßen und Brücken gebaut hat. Rot ist für das Blut amerikanischer Patrioten, das in den vergangenen Jahren so freudig vergossen wurde. «
Campbells Zuhörerschaft war schläfrig. Sie hatte in der Sirupfabrik hart gearbeitet und war dann einen langen Weg in der Kälte zurückmarschiert. Sie war abgemagert und hohläugig. Auf ihrer Haut begannen sich kleine entzündete Stellen zu bilden. Dasselbe geschah mit Mund, Hals und Darm. Der Malzsirup, den sie in der Fabrik löffelten, enthielt
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