Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
passiert? Das würde mich interessieren.«
Er betrachtete Sanna, die langsam und gleichmäßig am Knebel vorbeiatmete. Plötzlich trat er vor, packte ihren Kopf und befreite sie vom Knebel. Ein kurzer flammender Schmerz, dann konnte sie ihren Mund schließen. Die Zunge war geschwollen und staubtrocken, alles fühlte sich wund an. Trotzdem war es eine große Erleichterung, den Knebel endlich los zu sein.
»Schreien Sie ruhig, wenn Sie wollen«, sagte er. »Es wird sie keiner hören. Die Polizei ist weg. Und der nächste Hof ist weit entfernt.«
Sanna versuchte zu schlucken. Vorsichtig bewegte sie ihren Kiefer. Sie sehnte sich nach einem Glas Wasser, verbat sich aber, danach zu fragen.
»Jetzt sagen Sie schon«, hakte er nach. »Was ist auf der Brücke passiert?«
»Nichts.« Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich habe gesagt, er soll nicht springen. Das war alles.«
»Sie haben gesagt, er soll nicht springen?« Der Mann wirkte unzufrieden. »Er entgleitet mir. Eine Schande ist das. Wahrscheinlich liegt es am Alter.«
Ein schwerer Seufzer. »Sie hätten sich hier nicht einmischen sollen. Keiner wollte Ihnen je ein Haar krümmen, Frau Marquart.«
Sanna wich seinem Blick aus. Sie starrte zu Boden.
Er zog einen Zettel aus der Tasche und hielt ihn Sanna vors Gesicht. Er war die Liste, die Jakob für sie erstellt hatte.
»Sie wissen nun also, wer unsere treuesten Kunden sind. Jakobs Freier. Was hatten Sie mit der Liste vor? Wollten Sie damit zur Polizei?«
»Seine … Freier ?« Ihr Blick wanderte erschrocken zu Jakob. »Sie … dann sind Sie ein Lude? Für Minderjährige?«
Er lachte. »Ein Lude. Wie hört sich das denn an? Ich bin Dienstleister. Meine Kunden haben eben einen exklusiven Geschmack. Und Jungen wie Jakob bringen viel Geld ein. Sie machen sich gar keine Vorstellung.« Er ließ seinen Blick ebenfalls über den apathischen Jakob schweifen. »Jedenfalls war das früher so. Er ist längst zu alt geworden. Bald wird er volljährig. Dann haben wir keine Verwendung mehr für ihn.«
Jakob. Sanna fragte sich, was für Martyrien er hinter sich haben mochte. Es war unvorstellbar. Der Typ mit dem Basecap rückte näher an sie heran.
»Jetzt haben Sie uns in eine schwierige Situation gebracht, Frau Marquart. Sie waren einfach zu neugierig.« Wieder dieses kalte Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen das ersparen, aber dafür ist es leider zu spät. Heute Abend geben wir eine kleine …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… eine kleine Party . Einige meiner Kunden werden mit Jakob zusammen feiern. Eine Abschiedsfeier sozusagen. Nun ja, und wenn diese Party vorbei ist, dann werden wir uns mal ein bisschen zusammensetzen. Ganz privat.«
Er betrachtete sie, ließ seine Worte wirken. »Ihr Tod wird tragisch erscheinen, Frau Marquart. Aber er wird keine Frage offenlassen.«
Sie sagte nichts, wollte sich nichts anmerken lassen.
»Ich will es Ihnen mal erklären«, fuhr er fort. »Sie wollten Jakob dabei helfen, nach London zu fliehen, nicht wahr? Dem Mörder der kleinen Maike, wohlgemerkt. Was haben Sie sich nur dabei gedacht? In Ihrem Idealismus haben Sie wohl beschlossen, Jakob nur als Opfer zu sehen. Sie sind Sozialarbeiterin, richtig? Wen wundert es also. Sie fahren also mit ihm nach Düsseldorf. Unterwegs kommt aber Jakobs mörderische Seite wieder zum Vorschein. Er ist geisteskrank, und Sie sind völlig wehrlos. Sie werden nicht in Düsseldorf ankommen. Den kleinen Smart vom Stift Marienbüren«, er deutete nach draußen, »der jetzt noch oben im Wald steht, der wird an einem abgelegenen Baggerloch im Ruhrgebiet gefunden werden. Nicht weit von dem verlassenen Wagen entfernt taucht dann Ihre Leiche auf. Jakob wird fort sein, aber seine Spuren sind überall. An der Tatwaffe, an Ihrer Kleidung, im Smart. Wie naiv Sie doch waren, Frau Marquart. Einem Mörder zu vertrauen. Das konnte doch nicht gut gehen. Was für ein Unglück!«
Sanna starrte ins Nichts. Ihr Herz raste. Sie wollte sich nicht vorstellen, was mit ihr in dieser Scheune passieren würde.
Sie würde fliehen. Es fehlte nur ein Plan. Sie musste diesem Wahnsinnigen entkommen. Die Polizei holen. Und Tante Renate. Dann würde dem Spuk ein Ende bereitet werden.
»Ich werde Sie jetzt alleine lassen«, sagte der Mann. »Es gibt noch ein paar Dinge vorzubereiten. Plaudern Sie ein wenig mit Jakob. Obwohl …« Er betrachtete dessen zusammengesunkene Gestalt. »… daraus wird heute wohl nichts mehr. Wie auch immer. Ich muss mich jetzt
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