Schlafende Geister
gestiegen? – und ich versuchte, alles so zuverlässig wie möglich zu beantworten. Anfangs kamen wir nicht recht weiter, weil die London Road genau am Rand des Bereichs lag, der von den städtischen Überwachungskameras erfasst wurde, aber Cal merkte bald, dass sowohl die Eisenbahnbrücke selbst als auch die parallel laufenden Haupt- und Nebengleise mit einer Reihe von Überwachungskameras der Network Rail erfasst wurden, und sobald er sich in deren Dateien gehackt hatte – wozu er nicht lange brauchte –, hatten wir schließlich den Bereich eingegrenzt, der vielleicht ausreichen würde, um uns irgendwas zu zeigen.
»Jetzt müssen wir sie nur noch finden«, sagte Cal.
Wir brauchten lange, mindestens weitere drei Stunden, und es war eine zähe, akribische Suche, die uns beiden heftiges Kopfweh und schmerzende Augen bescherte, aber schließlich waren wir an dem Punkt, wo wir Anna – auf einer Folge verschwommener, ruckhaft fortschreitender Bilder – vom unteren Ende der Miller’s Road den ganzen Weg hoch zur London Road erkennen konnten. Und jetzt hatte Cal die Bilder einer Kamera runtergeladen, die ungefähr fünfzig Meter südlich der Eisenbahnbrücke postiert und nach hinten auf die Parkbucht gerichtet war. Wir starrten beide gebannt auf den Bildschirm, die Augen fixiert auf den kleinen grauen Fleck einer Gestalt, von der wir wussten, dass es Anna Gerrish sein musste. Wir hatten sie um 1.31 Uhr ankommen sehen und jetzt war es – nach den Ziffern am unteren Bildschirmrand – 1.41 Uhr. Bis dahin war nichts passiert. Wenn auch die Bildqualität miserabel war, konnte der Kamerablick nicht besser sein. Er zeigte die ganze Parkbucht, die Einfahrt oder Ausfahrt der Unterführung und die Straße, die von der Brücke aus hinführte. Um diese Uhrzeit war nur sehr wenig Verkehr in der Gegend, und keiner der Wagen, die wir bis dahin gesehen hatten, war an der Parkbucht stehen geblieben.
Wir mussten ganz einfach warten.
»Was hat Tasha gesagt, wann sie den Nissan gesehen hat?«, fragte mich Cal, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
»Sie meinte, so gegen zwei.«
Cal nickte.
Ich beugte mich näher an den Bildschirm heran, als in der Unterführung plötzlich Scheinwerfer auftauchten … doch der Wagen hielt nicht. Ich beobachtete, wie er an der Bucht vorbeifuhr, die Höhe der Kamera erreichte und danach verschwand.
»Wohin führt die Straße?«, fragte ich Cal.
»Von hier Richtung Süden?«
»Ja.«
»Die London Road endet an der Einfahrt der Unterführung. Danach heißt sie Great Hey Road. Die folgt eine Weile den Eisenbahnschienen, ungefähr achthundert Meter vielleicht, dann kommt ein Abzweig nach rechts, über den man zurück in die Stadt kann, aber wenn du auf der Great Hey Road bleibst und immer weiterfährst … Warte mal, was ist das?«
Wieder tauchten in der Unterführung Scheinwerfer auf, diesmal bewegten sie sich relativ langsam. Wir beugten uns beide noch näher an den Bildschirm heran. Die Scheinwerfer waren aufgeblendet. Bei diesem Licht war es unmöglich zu sehen, um was für ein Auto es sich handelte. Doch als es auf das Ende der Unterführung zukam, schien es eindeutig langsamer zu werden.
»Das könnte er sein«, sagte Cal leise.
Der Wagen kam jetzt aus der Unterführung heraus und blinkte. Er bog in die Parkbucht, und als ich sah, wie der graue Fleck, der Anna war, auf das Auto zuging, spürte ich einen unsinnigen Drang, ihr zuzurufen: Tu’s nicht, Anna. Steig nicht in den Wagen! Aber natürlich stieg sie ein, nachdem sie sich durch das Beifahrerfenster hineingebeugt und für zehn Sekunden mit dem Fahrer geredet hatte.
»Scheiße«, flüsterte Cal.
Die Scheinwerfer waren noch aufgeblendet, als der Wagen wieder losfuhr, und auf diese Entfernung war es unmöglich, den Fahrer zu erkennen. Aber jetzt kam der Wagen auf uns zu, immer näher – und wir beide pressten die Gesichter fast gegen die Scheibe … und gerade als der Wagen an der Kamera vorbei und aus dem Blickfeld verschwinden wollte, tauchte ein anderes Fahrzeug auf, das in die entgegengesetzte Richtung fuhr, und unser Fahrer musste abblenden. Und nur für eine Sekunde hatten wir einen relativ guten Blick auf den Wagen. Aber es war buchstäblich nur eine Sekunde, dann war das Auto weg.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte ich Cal.
»Nein, ging zu schnell.«
»Scheiße.«
Er grinste mich an. »Ist ja nicht live …«
»Was?«
»Das ist eine Aufzeichnung, wir können sie uns so oft ansehen, wie wir wollen.« Er fing an
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