Schlafende Geister
Sie, John … aber eine Sache gibt uns Hoffnung.«
Ich sage nichts, warte nur ab.
»Bei der Autopsie«, erklärt er mir, »hat der Pathologe ein kleines Stück Kopfhaut im Magen Ihrer Frau gefunden.«
»Kopfhaut?«
Er nickt. »Wir glauben – und ich muss betonen, dass die gerichtsmedizinischen Untersuchungen noch laufen, weshalb wir es im Moment nicht mit Gewissheit sagen können –, aber wir glauben, dass sich Ihre Frau irgendwann im Lauf des Überfalls gewehrt und ihrem Angreifer in den Kopf gebissen haben muss … und zurzeit gehen wir, auch wenn es unfassbar klingt, davon aus, dass sie ihm tatsächlich ein Stück seiner Kopfhaut abgebissen –«
»Und runtergeschluckt hat?«
Delaney schüttelt bewundernd den Kopf. »Ob sie wusste, was sie tat, weiß ich natürlich nicht. Jedenfalls hat sie dafür gesorgt, dass er nicht davonkam, ohne seine DNA zu hinterlassen. Egal, warum sie es getan hat … ich kann nur sagen, sie muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein.«
»Ja … ja, das war sie.« Und jetzt weine ich. »Sie können also die DNA anhand des Stücks Kopfhaut ermitteln?«
Er nickt. »Es gibt keinen Grund, wieso nicht. Es ist alles da, was das Team in der Pathologie braucht – Blut, Haut … Haare. Wir erwarten das Ergebnis binnen einer Woche. Natürlich hängt dann alles davon ab, ob die DNA mit der einer erfassten Person übereinstimmt. Wenn wir die DNA einem Profil zuordnen können, das wir bereits in der Datenbank haben, ist alles klar. Doch wenn nicht, wenn der Mann, der Stacy ermordet hat, noch nie verhaftet wurde …«
»Aber wahrscheinlich wurde er.«
Delaney nickt vorsichtig. »Wahrscheinlich ja. Das Ganze sieht nicht nach dem Werk eines Ersttäters aus. Doch nur weil er so was schon einmal gemacht hat, heißt das nicht notwendigerweise, dass er auch verhaftet wurde.«
»Mit anderen Worten … wir können nur abwarten.«
»Ich fürchte, ja. Wie gesagt, das DNA-Ergebnis sollte bis Ende der Woche vorliegen und ich verspreche Ihnen, dass ich mich melde, sobald es da ist.«
»Danke.«
»Und wenn es in der Zwischenzeit sonst noch Erkenntnisse gibt …«
Ich nicke und stehe auf.
Was gibt es noch zu sagen.
Nichts.
Ich muss einfach warten.
Ich hatte Ada gesagt, dass ich keinen Beweis für eine Beteiligung Bishops an Annas Verschwinden hätte, aber die simple Wahrheit war, ich hatte für überhaupt nichts einen Beweis. Trotz Cals ganzer Mühe, sich in das Überwachungssystem zu hacken und stundenlang Filmmaterial zu sichten, konnten wir nur belegen, was Tasha mir erzählt hatte – nämlich dass Anna von einem Mann in einem Nissan Almera mitgenommen worden war. Sonst nichts. Mehr wussten wir nicht. Ich hatte keine Ahnung, wer der Mann war, keine Ahnung über seine Absichten, keine Ahnung, was er mit Anna gemacht hatte.
Es konnte sein, dass Bishop recht hatte mit seiner Vermutung, Anna hätte wahrscheinlich nur einen Kerl getroffen und sie seien zusammen abgehauen. Vielleicht war der Mann in dem Nissan wirklich bloß ein Freier, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Anna aus ihrem verpfuschten Leben zu retten … oder vielleicht war er auch nur ein x-beliebiger Freier. Charles Raymond Kemper, ein einsamer Geschäftsmann aus Leicester, der zu einer Vertriebstagung nach Hey kommt oder um sich mit Investoren zu treffen … er spricht Anna an, fährt mit ihr irgendwohin an einen netten, stillen Ort, bezahlt sie dafür, das zu tun, was er sich wünscht, fährt dann zurück und setzt sie irgendwo ab.
Wieso nicht?
Ich hatte keine Ahnung.
Aber selbst wenn ich ein eiskalter Realist bin und nicht einmal ansatzweise an Übernatürliches, Spirituelles oder Mystisches glaube … als ich das unscharfe Videomaterial betrachtet hatte, wie Anna in den Nissan einstieg, wusste ich, dass ich einen Geist sah.
Anna Gerrish war tot.
Ich hatte keinen Zweifel.
Und ich wusste, dass ich sie nicht finden würde, indem ich einfach nur herumfuhr und der eventuellen Route ihrer wahrscheinlich letzten Fahrt folgte, aber mir war genauso klar, dass sie tatsächlich irgendwo da draußen sein konnte – verscharrt in einem flachen Grab, zurückgelassen in einem einsamen Wäldchen, um dort zu verwesen, oder einfach irgendwo am Straßenrand entsorgt, so wie man Spielzeug wegwirft, das keiner mehr will. Und wenn sie dort draußen war, war sie es inzwischen schon seit einem ganzen Monat … und niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu finden.
Keiner hatte nach ihr gesucht.
Keinen hatte ihr Schicksal
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