Schlafende Geister
hoch, wischte den Staub weg und drehte das Teil auf den Rücken, um den Mechanismus zu untersuchen. Das Gehäuse wirkte unpassend in seinen Händen, wie eine Christbaumkugel in den Händen eines Riesen. Er stieß gegen die Krebsfüße, drückte mit seinem Daumen eine gebrochene Schere auf, dann stellte er das Spielzeug zurück ins Regal und sah sich verächtlich im Zimmer um.
»Ist sie Ihre einzige Mieterin?«, fragte er beiläufig.
»Wie bitte?«
»Miss Moran … ob sie Ihre einzige Mieterin ist?«
»Ja.«
Er grinste mich an. »Wie hoch ist die Miete?«
Ich antwortete nicht, sah ihn nur an.
»Egal«, sagte er und schniefte wieder. »Der Grund, weshalb ich hier bin … nun ja, es geht um den Fall Anna Gerrish.« Er unterbrach sich einen Moment, steckte die Hände in die Taschen und sah mich an. »Sie wissen doch, dass die Leiche identifiziert ist, oder?«
Ich nickte. »Stand letzte Woche in der Zeitung.«
»Die DNA-Befunde haben bestätigt, dass es sich um Anna Gerrish handelt. Die Kriminaltechniker suchen noch nach Beweismaterial vom Tatort, aber weil die Leiche so lange da draußen gelegen hat und die meiste Zeit halb unter Wasser war, ist es schwierig, zu endgültigen Ergebnissen zu kommen. Wir wissen, dass sie erstochen wurde, und wir sind uns fast sicher, dass sie an dem Parkplatz oder ganz in der Nähe umgebracht wurde. Aber wir können nicht sagen, ob sie vergewaltigt wurde, und bislang sind wir auch nicht in der Lage, den exakten Todeszeitpunkt zu bestimmen. Und es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass es uns noch gelingt. Doch wir gehen davon aus, dass sie noch am Tag ihres Verschwindens getötet wurde.«
Ich nickte wieder und hielt den Blick auf Bishop fixiert, während mein Kopf voller Fragen war, die ich ihm gern gestellt hätte, aber nicht stellen konnte: Haben Sie das Filmmaterial aus den Überwachungskameras gesehen? Haben Sie den Wagen oder den Fahrer identifiziert? Haben Sie mit Genna Raven oder mit Tasha gesprochen? Wissen Sie, wie viel ich weiß? Wissen Sie, dass ich weiß, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben?
»Wieso erzählen Sie mir das alles?«, fragte ich, während ich meine Zigarette ausdrückte und eine neue anzündete. »Sie haben mir doch selbst gesagt, dass mich der Fall nichts mehr angeht. Dass es jetzt eine Ermittlung der Polizei ist. Dass ich nicht die Polizei bin und in keiner Weise, keiner verfluchten Form involviert bin.«
»Ich weiß, was ich Ihnen gesagt habe«, antwortete Bishop frostig. »Aber die Dinge ändern sich, John. Die Dinge haben sich geändert.«
»Welche Dinge?«
Er machte eine Pause, ehe er antwortete, schaute kurz von mir weg, und ich fragte mich, ob dies der Moment war, den ich die letzten zwei Wochen mehr oder weniger erwartet hatte – der Moment, in dem er seinen Trumpf ausspielen und versuchen würde, mich in den Tod von Anna Gerrish zu verwickeln. Ich hoffte nicht, aber ich hatte genug Zeit gehabt, mich darauf einzustellen, deshalb war ich nicht allzu besorgt. Ich fühlte mich bereit.
Ich hätte mich nicht stärker täuschen können.
Bishop holte Luft und sprach dann ruhig weiter. »Unter Annas Fingernägeln wurden eine Reihe von menschlichen Haaren gefunden«, sagte er. »Und an einigen dieser Haare waren noch die Wurzeln, was bedeutet, dass die Gerichtsmedizin aus den Zellen DNA-Proben gewinnen konnte. Natürlich können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass die Haare von Annas Mörder stammen …« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Aber sie sind doch ein einigermaßen stichhaltiger Beweis, um ihn zu überführen.«
»Haben Sie die DNA abgeglichen?«, fragte ich mit plötzlich trockenem Mund.
Bishop nickte. »Die Gerichtsmedizin hat das Ergebnis heute Morgen bestätigt.«
Er sah mich an.
»Das DNA-Profil der Haare, die unter Anna Gerrishs Fingernägeln gefunden wurden, stimmt zu hundert Prozent mit dem DNA-Profil von Anton Viner überein.«
»Viner?« , flüsterte ich.
»Es ist geprüft und gegengeprüft worden.«
»Das ist unmöglich .«
Er gehört mir …
Um circa 1.45 Uhr halte ich mitten in einer schäbigen grauen Sozialbausiedlung im Osten der Stadt am hinteren Ende der School Lane, stelle den Wagen ab und schalte den Motor aus. Die Straße ist menschenleer. Ich kurbele das Fenster hoch, steige aus, schließe den Wagen ab. Irgendwo in der Nähe, vielleicht am anderen Ende der Straße, läuft eine Party. Ich höre die Musik, die stampfenden Bässe. Rufe und Gelächter zerreißen die Nacht. Ich gehe den
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