Schlafender Tiger. Großdruck.
Geduld. „Verzeihen Sie, Mr. Dyer, aber wir sprechen offenbar nicht dieselbe Sprache. Ich finde Ihr Benehmen unerträglich.“
„Das tut mir leid.“
„Nehmen Sie immer so wenig Rücksicht auf die einfachsten Anstandsregeln?“
„Ja, immer. Ich pfeife drauf.“
Einen Moment lang spielte Rodney mit dem Gedanken, George einen Kinnhaken zu verpassen, doch dann entschied er, dieser Mann sei unter seiner Würde. Am besten ignorierte man ihn. Er wandte sich an Selina. „Selina...“ Sie zuckte sichtlich zusammen. „Das alles tut mir leid, aber ich halte dir zugute, daß du geglaubt hast, es wäre nicht deine Schuld. Ich bin bereit, das alles zu vergessen, aber wir müssen dafür sorgen, daß nicht auch nur das geringste von dem, was hier geschehen ist, jemals nach London dringt.“
Selina musterte ihn ernst. Sein Gesicht war weich und glatt rasiert. Er schien keine einzige Falte zu haben, und es war unmöglich sich vorzustellen, daß er älter wurde, ein erfahrener Mann, dem man ansah, daß er gelebt hatte. Er würde mit achtzig immer noch so aussehen wie jetzt, genauso unpersönlich und glatt wie ein frischgebügeltes Hemd.
„Warum, Rodney?“ fragte sie.
„Ich... Ich möchte nicht, daß Mr. Arthurstone davon erfährt.“
Das war eine derart alberne Antwort, daß sie am liebsten gelacht hätte. Mr. Arthurstone mit seiner Arthritis in den Knien, der sie zum Altar führen würde... Was um Himmels willen hatte Mr. Arthurstone damit zu tun? „Und jetzt“, Rodney blickte auf seine Uhr, „wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Zieh dir etwas an, und dann gehen wir.“
George zündete sich eine Zigarette an. Er machte das Streichholz aus, nahm die Zigarette aus dem Mund und sagte: „Sie kann nicht mit Ihnen nach London kommen. Sie hat ihren Paß verloren.“
„Sie hat was?“
„Ihren Paß verloren. Es ist gestern passiert. Äußerst merkwürdig.“
„Ist das wahr, Selina?“
„Oh. Ich... nun, ja...“
George ließ sie nicht weiterreden. „Natürlich ist das wahr. Mein lieber Mr. Ackland, Sie haben ja keine Ahnung von den Verhältnissen hierzulande. Man würde Ihnen das Gold aus den Zähnen stehlen, wenn man die Chance hätte.“
„Aber dein Paß. Selina, ist dir klar, wie ernst die Situation ist?“
„Nun... ich ...“ stotterte Selina.
„Hast du schon das britische Konsulat verständigt?“
„Nein“, erwiderte George an Selinas Stelle, „aber sie hat es der Guardia Civil am Flughafen gesagt, und sie waren sehr hilfsbereit und verständnisvoll.“
„Es überrascht mich, daß sie sie nicht sofort ins Gefängnis geworfen haben.“
„Das hat mich auch ziemlich überrascht. Ist es nicht wundervoll, was ein hübsches Lächeln alles bewirken kann, sogar in Spanien?“
„Aber was unternehmen wir denn jetzt?“
„Nun, wenn Sie mich so fragen, würde ich vorschlagen, daß Sie sich in Ihr Taxi setzen, nach London zurückfliegen und Selina hier bei mir lassen... Nein“, wehrte er Rodneys wütenden Protest ab, „ich denke wirklich, es ist das beste. Sie können wahrscheinlich einige Hebel in Bewegung setzen, und gemeinsam sollte es uns doch wohl gelingen, ihr das Gefängnis zu ersparen. Und machen Sie sich keine allzu großen Sorgen um die Konventionen, alter Junge. Immerhin bin ich offensichtlich Selinas engster Verwandter, und ich bin mehr als bereit, die Verantwortung für sie zu übernehmen...“
„Verantwortung? Sie?“ Er versuchte es ein letztes Mal bei Selina. „Du willst doch nicht etwa hierbleiben, oder?“ Bei dem Gedanken explodierte er fast.
„Nun...“
Ihr Zögern genügte ihm als Antwort. „Ich kann es einfach nicht glauben! Dieser Egoismus! Dir scheint nicht klarzusein, daß nicht nur dein guter Name auf dem Spiel steht. Ich habe ebenfalls einen gewissen
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