Schlaflos - Insomnia
McGovern nun gewiss hinter sich gelassen hatte (jedenfalls hoffte er es), ging Ralph durch das schmale Waldstück aus Eichen und Ahornbäumen, das den Picknickplatz von der Extension abschirmte. Er sah, dass sich seit seinem Spaziergang vorhin inzwischen acht oder neun Leute versammelt hatten, die meisten mit Vespertüten oder Sandwiches von Coffee Pot. Die Eberlys und Zells spielten Hearts mit dem abgegriffenen Blatt Top-Hole-Karten, das sie in einem Astloch der nächsten Eiche versteckten; Faye und Doc Mulhare, ein pensionierter Tierarzt, spielten Schach; ein paar andere wanderten zwischen den beiden Spielen hin und her, um zu kiebitzen.
Auf dem Picknickplatz drehte sich alles um die Spiele - wie bei den meisten Treffpunkten im Derry der Altsemester -, aber Ralph dachte, dass die Spiele in Wirklichkeit
nur Beiwerk waren. Eigentlich kamen die Leute hierher, um den Kontakt nicht zu verlieren, sich zu melden, zu bestätigen (und sei es nur sich selbst), dass sie immer noch eine Art von Leben führten, wirklich oder sonst wie.
Ralph setzte sich auf eine freie Bank in der Nähe des Sturmzauns, strich mit einem Finger zerstreut über die eingeschnitzten Botschaften - Namen, Initialen, jede Menge FUCK YOUS -, und beobachtete Flugzeuge, die in regelmäßigen Zwei-Minuten-Intervallen landeten: eine Cessna, eine Piper, eine Apache, eine Twin Bonanza, den 11.45 Air Express aus Boston. Mit einem Ohr lauschte er dem Auf und Ab der Gespräche hinter ihm. May Lochers Name wurde mehr als einmal erwähnt - mehrere der Anwesenden hatten sie gekannt, und der allgemeine Tenor schien die Meinung von Mrs. Perrine widerzuspiegeln, dass Gott sich endlich erbarmt und ihrem Leiden ein Ende gesetzt hätte. Die meisten Gespräche kreisten heute jedoch um den bevorstehenden Besuch von Susan Day. In der Regel sprachen die Altsemester nicht viel über Politik, sie zogen jederzeit einen guten Darmkrebs oder Schlaganfall als Gesprächsthema vor, aber selbst hier draußen verlor die Abtreibungsdebatte nicht ihre einzigartige Fähigkeit, die Gemüter zu beschäftigen, zu erzürnen und zu entzweien.
»Sie hat sich eine schlechte Stadt ausgesucht, und das Schlimme daran ist, ich bezweifle, dass sie das weiß«, sagte Doc Mulhare und betrachtete das Schachbrett voll verdrossener Konzentration, während Faye Chapin die restliche Streitmacht seines Königs im Blitzkrieg niedermähte. »Hier passiert so allerhand. Erinnerst du dich an den Brand im Black Spot, Faye?«
Faye grunzte und schlug Docs letzten Läufer.
»Ich verstehe diese Scherzkekse hier nicht«, sagte Lisa Zell, nahm die Derry News vom Picknicktisch und zeigte auf das Foto der Kapuzengestalten, die vor WomanCare marschierten. »Sieht so aus, als wünschten sie sich die Zeiten zurück, als Frauen Abtreibungen mit Kleiderbügeln vorgenommen haben.«
»Genau das wollen sie«, sagte Georgina Eberly. »Sie denken sich, wenn eine Frau genügend Angst vor dem Sterben hat, wird sie das Baby bekommen. Sie kommen nicht auf den Gedanken, dass eine Frau mehr Angst davor haben könnte, ein Baby zu bekommen, als davor, es mit einem Kleiderbügel wegzumachen.«
»Was hat denn Angst damit zu tun?«, fragte einer der Kiebitze - ein flachgesichtiger Alter namens Pedersen - trotzig. »Mord ist Mord, ob das Baby drinnen oder draußen ist, so sehe ich das. Selbst wenn sie so klein sind, dass man ein Mikroskop braucht, um sie zu sehen, ist es Mord. Weil sie Kinder werden würden, wenn man sie in Ruhe ließe.«
»Ich denke, das macht dich jedes Mal, wenn du dir einen runterholst, zu Adolf Eichmann«, sagte Faye und zog mit der Dame. »Schach.«
»La-fay- ette Cha -pin!«, rief Lisa Zell.
»Ist überhaupt nicht dasselbe, wenn man an sich selber rumspielt«, sagte Pedersen finster.
»Ach nein? Gab es nicht in der Bibel einen, der von Gott verflucht wurde, weil er den alten Lurch gewürgt hat?«, fragte der andere Kiebitz.
»Wahrscheinlich meinst du Onan«, sagte eine Stimme hinter Ralph. Er drehte sich erschrocken um und sah den
alten Dor da stehen. In einer Hand hielt er ein Taschenbuch mit einer großen 5 auf dem Umschlag. Woher, um alles in der Welt, kommst du denn? , wunderte sich Ralph. Er hätte fast schwören können, dass vor einer Minute noch niemand hinter ihm gestanden hatte.
»Onan, Schmonan«, sagte Pedersen. »Diese Spermien sind nicht dasselbe wie ein Baby…«
»Nicht?«, fragte Faye. »Und warum verkauft die katholische Kirche dann keine Gummis bei Bingospielen? Sag mir das.«
»Das
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