Schlangenblut (German Edition)
und ihrer Arbeitsstelle lag und dennoch für sie erschwinglich gewesen war.
Lucy begleitete Megan in die Diele und stellte die Alarmanlage neu ein. »Dein Vater hat bis ein Uhr Patienten. Kommst du bis dahin allein klar?«
»Mom, ich bin kein Kleinkind mehr.« Sie schüttelte verärgert den Kopf und stolzierte davon, als wäre Lucy senil geworden.
Für Lucy war es höchste Zeit, aber obwohl das Leben eines Kindes auf dem Spiel stand, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie hielt Megan von hinten fest, zog sie in eine enge Umarmung und drückte ihr einen lauten Kuss auf den Kopf, wobei ihr der Duft von Megans Shampoo in die Nase stieg. Mandel und Vanille. Der Geruch von Megans Babyshampoo hatte Lucy noch besser gefallen – es hatte ihr ein stärkeres Gefühl von Sicherheit vermittelt, als Megan noch in ihrer Babybadewanne geplanscht und Lucy sie dabei gehalten hatte, in Nächten, in denen sie und Nick vor Erschöpfung kaum noch die Augen offen halten konnten, während sie Megan auf dem Schoß wiegten und über sie wachten …
»Mom!«, protestierte Megan und riss sich los. »Du stinkst ja grauenhaft!« Dann stampfte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa fläzte und nach der Fernbedienung des Fernsehers griff.
Lucy stieg widerwillig die Treppe hoch. Zehn Minuten später kam sie wieder heruntergerannt, nachdem sie sich das Gesicht gewaschen, die Haare gekämmt, ein Deo benutzt und frische Sachen angezogen hatte. »Vergiss nicht, viel zu trinken, und sag deinem Vater, dass du um acht eine Ibuprofen genommen hast und somit die nächste erst –«
»Mom, würdest du bitte einfach nur gehen? Ich schaffe das schon allein. Geh endlich, sie warten schon auf dich.«
»Okay, bin schon weg. Hab dich lieb!«
Letzteres war anscheinend zu ermüdend für die Königin der Apathie, die Lucy nur achselzuckend zuwinkte und ein »Alles klar« murmelte.
***
»Ich kann nicht lange bleiben, Mom.« Sanft verteilte Jimmy das Shampoo in den silberweißen Locken seiner Mutter. Sie hatte schweres, dichtes Haar. Früher war es dunkel wie Ebenholz gewesen. Die Schwestern im Heim machten ihre Arbeit zwar nicht schlecht, aber Alicia beteuerte beharrlich, dass nur Jimmy richtig mit ihren Haaren umgehen könne.
Alicia tätschelte seinen Oberschenkel und verlagerte das Gewicht im Stuhl, um ihn besser zu erreichen. »Erzähl mir von deiner neuen Freundin, Jimmy. Ich will alles wissen.«
Er legte ihre Haare über den Kamm, damit es nicht weh tat, wenn er die Knoten entwirrte. Genau so, wie sie es ihm beigebracht hatte. »Ich denke, sie könnte die Richtige sein. Sie ist klug, mutig und sehr schön.«
»Und wie alt ist sie? Nicht zu alt, hoffe ich. Ich sage dir doch immer, ein Mann wie du braucht eine junge Frau, die mit ihm mithalten kann. So wie ich bei deinem Vater.«
Er schloss die Augen und wiegte sich im Takt ihrer Worte hin und her. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Sie war immer für ihn da gewesen, bis ihre schwindende Gesundheit sie vor drei Jahren gezwungen hatte, ins Heim zu gehen. Seither besuchte er sie jeden Tag.
»Dein Vater war nur ein paar Jahre jünger, als du jetzt bist, als er kam und mich mitnahm. Er ist aufs Dach der Veranda geklettert und in mein Fenster gestiegen wie Errol Flynn, so schön war er. Er hat mich gerettet und weggetragen, bevor mein Vater sich’s versah. Und das war gut so, denn der hätte uns beide erschossen.« Sie erschauderte. »Oder Schlimmeres.«
Jimmy schlang von hinten die Arme um sie. Sie war so zierlich, dass es ihm keinerlei Mühe bereitete, ihren ausgezehrten Körper zu umfassen. Ihre jahrelang unbehandelte Diabetes hatte ihr die Sehkraft geraubt und sie älter gemacht als ihre achtundsiebzig Jahre, jetzt drohte die Krankheit ihr den Rest zu geben, wenn die Ärzte ihre Nieren nicht retten konnten. Ihre Hand hob sich zitternd und legte sich auf seinen Arm.
»Wie alt warst du damals?«, fragte er, um sich an ihre vertraute Litanei zu halten.
»Ich war vierzehn. Aber ich hatte schon genug von der Welt gesehen. Genug, um zu verstehen, dass alles besser war, als im Haus meines Vaters zu bleiben. Ohne deinen Vater – diesen großen, mutigen, schönen Mann – wäre ich gestorben. Er hat mich gerettet.«
Jimmy legte den Kamm weg, legte den Kopf an ihren und atmete den Zitrusduft des Shampoos ein, der so viel angenehmer war als der ekelhaft süßliche Geruch nach Verwesung, den die anderen Bewohner des Heims verströmten. »Erzähl mir von meinem Vater.«
»Ach, wenn du
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