Schlangenblut (German Edition)
Beine und die blauen Flecken zum Vorschein, die sie mit Stolz trug, seit sie es geschafft hatte, in die Fußballmannschaft aufgenommen zu werden.
Eigentlich hätte Lucy in diesem Augenblick ganz andere Aufgaben gehabt: Vorgehensweise und Papierkram der Schlangenhalter überprüfen, sich auf den morgigen Einsatz vorbereiten, die neuesten Berichte der Kinderhilfsorganisation NCMEC lesen, ihre Waffen reinigen …
Megan blätterte einen zerschlissenen National Geographic durch und schaute dabei zu ihrer Mutter hoch.
»Du siehst echt voll wie eine Nutte aus«, sagte sie schließlich in dem gelangweilten Tonfall einer Lebensüberdrüssigen. Als würde ihre Mutter sich immer so kleiden – wie eine ordinäre, alleinerziehende Frau, die in einem Wohnwagen haust und ihre Tochter jederzeit an wildfremde Männer verhökern würde. »Und wo kommt eigentlich dieser Gestank her?«
Lucy ersparte sich eine Antwort. Seit sie und Nick – nein, sie ganz allein – Megan aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen hatten und nach Pittsburgh gezogen waren, machte alles, was sie sagte, die Dinge nur noch schlimmer.
»Du kannst ruhig draußen warten«, fuhr Megan fort. »Wirklich, ist kein Problem. Ich geh schon länger allein zum Arzt rein.«
Lucy war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Sie konnte kaum glauben, dass ihr Kind schon zwölf war, ein angehender Teenager. Der Gedanke machte ihr Angst. Lucy wusste nur zu gut, welche Gefahren in den nächsten Jahren auf Megan lauerten. Unabhängig davon, ob sie und Nick gute Eltern waren, würde Megan diesen Gefahren irgendwann ganz allein entgegentreten müssen, und mit dieser Vorstellung konnte sich Lucy gar nicht anfreunden.
»Vergiss nicht das Fußballspiel nächste Woche«, sagte Megan und setzte damit einen weiteren Punkt auf Lucys To-do-Liste. »Du hast Brownies versprochen. Aber nicht diese blöden gekauften mit dem klebrigen Zuckerguss.«
»Du spielst aber nur, wenn der Arzt es dir erlaubt.«
»Mom …« Mit einer einzigen Silbe machte Megan ihre Mutter für den Niedergang der Zivilisation und die Zukunft der gesamten Menschheit verantwortlich. »Du weißt doch, dass ich kein Spiel verpassen darf. Schließlich bin ich noch neu in der Mannschaft, oder hast du das schon wieder vergessen?«
»Wir sind jetzt immerhin schon drei Monate hier. Meinst du nicht, du könntest langsam von dem Trip runterkommen, mir für alles die Schuld zu geben?«
Statt gerügt zu wirken, grinste Megan nur – als habe sie noch genügend Tricks im Ärmel und warte nur darauf, sie an ihrer Mutter auszuprobieren. Oder, besser noch, an ihrem gutgläubigeren und leichter beeinflussbaren Vater. Megan wusste ganz genau, wie sie bekam, was sie wollte – in dieser Hinsicht kam sie ganz nach ihrer Mutter. Genau wie vom Gesicht her, das eher Lucys italienische Wurzeln verriet als Nicks irische: das dichte, beinahe schwarze Haar, die hohen Wangenknochen und die dunklen Augen. Das Einzige, was Megan von Nick geerbt hatte, war ihr blasser Teint und die Neigung zu Sommersprossen.
»Ich möchte sichergehen, dass der Arzt alle Einzelheiten weiß«, sagte Lucy. Sie sprach in ihrem berufsmäßigen Tonfall, obwohl ihr klar war, dass Megan ihre gespielte Selbstbeherrschung durchschaute. »Wir müssen dieser Geschichte endlich auf den Grund gehen.«
Megan warf ihr einen Wenn’s-sein-muss-Blick zu, verzichtete aber immerhin darauf, die Augen zu verdrehen. »Du gehst immer gleich vom Schlimmsten aus.«
Dabei hatte Megan keine Ahnung, was das Leben an schlimmen Dingen in petto hatte, und Lucy wollte dafür sorgen, dass dies auch so lange wie möglich so blieb.
»Und du machst dir zu viele Sorgen«, fuhr Megan mit ihrer Analyse dessen fort, was an ihrer Mutter alles nicht stimmte. »Das kommt von dem Kram, den du bei deiner Arbeit zu sehen kriegst. Dabei habe ich doch nur Halsschmerzen. Seit der Tablette geht’s mir schon besser, trotzdem denkst du immer, jeder würde ständig in Lebensgefahr schweben.«
Genau, und zwar weil jeder in Gefahr schwebte. Zumindest in Lucys Welt. Schließlich rang sie sich aber ein Lächeln ab und erwiderte: »Das hört man gerne. Aber eine MySpace-Seite kriegst du trotzdem nicht.«
Megan riss die Augen auf. Woher wusste ihre Mutter, dass sie eine wollte? Dann verzog sie die Lippen zu einem einschmeichelnden Lächeln. »Du könntest sie doch auch benutzen – beruflich, meine ich.«
Trotz der stickigen Wärme im Untersuchungszimmer erschauderte Lucy bei dem Gedanken, die Widerlinge,
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