Schlangenblut (German Edition)
und der Menschenmenge und des ganzen Chaos, in dem ein paar unternehmerisch begabte Kinder sogar einen Limonadenstand aufgebaut hatten, hätte sie ihm womöglich sogar vergeben – hätte er nicht die Hand auf den Griff seiner Pistole gelegt und diese sogar ein Stück weit aus dem Holster gezogen.
Ein ganz und gar unangemessener Reflex, wenn man bei einem Medienereignis mit unzähligen Zivilisten und Reportern den Verkehr zu regeln hatte.
Der Typ war offensichtlich nicht nur fehl am Platz, er sah auch noch total erschöpft aus – als wäre seine Schicht schon vor Stunden beendet gewesen, aber keine Ablösung für ihn gekommen.
»Officer Nowicki«, las sie von seinem Namensschild ab. »Ich bin Supervisory Special Agent Lucia Theresa Guardino.« Lächelnd hielt sie ihm ihren Dienstausweis unter die Nase.
Er musterte sie blinzelnd und verglich ihr Gesicht mit dem Foto auf dem Ausweis. » FBI ?«
»Genau. Ich weiß, dass mein Fahrzeug hier im Weg steht, aber ich muss so schnell wie möglich zu dem Haus. Wissen Sie, wer in dieser Angelegenheit mein Ansprechpartner ist? Ich muss dringend mit ihm reden.«
»Das bin dann wohl ich, Madam.«
»Bestens. Wissen Sie was? Warum rufen Sie nicht einfach Ihren Vorgesetzten an und sagen ihm, dass ich mich mit Ihnen unterhalten muss und er Sie ablösen lassen soll, während Sie mich zum Haus begleiten und mir ein paar Informationen geben. Ach ja, und vielleicht könnte jemand meinen Wagen irgendwohin bringen, wo er weniger stört?« Sie hielt ihm die Autoschlüssel hin, die er sofort entgegennahm.
Nowicki nickte und sprach in sein Funkgerät. Als er fertig war, fragte sie: »Also, worum geht’s hier?«
»Die Mutter hat um 3.18 Uhr einen anonymen Anruf erhalten. Dann hat sie festgestellt, dass die Kleine weg war, und uns angerufen. Anscheinend hat das Mädchen seiner Mutter erzählt, es müsste zum Babysitten, aber als die Mutter bei der betreffenden Familie nachgefragt hat, haben die ihr gesagt, dass sie das Mädchen gar nicht angefordert hatten. Deswegen dachten wir anfangs, sie wäre einfach nur weggelaufen. Keinerlei Einbruchsspuren – nichts außer der Tatsache, dass die Kleine und ihre Sachen verschwunden sind.«
»Hat das Mädchen eine Vorgeschichte? Irgendwas Aktenkundiges?«
»Fehlanzeige. Aber als der Vater eintraf – die sind geschieden –, bestand die Mutter darauf, der Anruf wäre eine Lösegeldforderung gewesen.«
Nowickis Ablösung traf ein, und so gingen sie die Straße entlang zu dem beigefarbenen Klinkerhaus am Ende der Sackgasse.
»Dann handelt es sich also um eine Entführung mit Lösegeldforderung?« Lucy fragte sich, warum man sie nicht schon früher hinzugezogen hatte. Entführungen mit Lösegeldforderung waren nicht nur selten, sondern gehörten auch zu der Art von Fällen, die das Polizeirevier einer Kleinstadt normalerweise unverzüglich an eine Dienststelle mit besseren Möglichkeiten weiterreichte.
»Da liegt ja gerade das Problem. Es sieht fast so aus, als ob die Kleine freiwillig gegangen wäre und dabei sogar ihre Spuren verwischt hat. Zum letzten Mal gesehen wurde sie gestern in der Schule.«
»Aber was ist mit dem Anruf?«
»Die Mutter meint, es war eine Männerstimme. Er hat angeblich gesagt: ›Wir haben, was Sie wollen‹, dazu gelacht und dann aufgelegt.«
»Klingt nach einem Scherzanruf. Vielleicht war das nur ein Zufall.« Lucy beschleunigte ihren Schritt und versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Was für ein Schlamassel.
»Und dann wäre da noch der Vater – anscheinend ein Freund des Bürgermeisters von Pittsburgh, und der ist wiederum ein Freund vom Sheriff –«
Auch das erklärte einiges. Sie erreichten das Haus der Familie am Ende der Straße, wo zwar weniger Gaffer herumstanden, das Chaos aber nicht geringer war.
»Danke, Officer Nowicki.«
»Viel Glück«, wünschte er und zog sich zurück.
Ashley Yeagers Zuhause war ein zweistöckiges Backsteinhaus, das zu groß war für das Grundstück, auf dem es stand. Es war die Art von Haus, die Kinder an Halloween ausließen, weil sie wussten, dass entweder niemand an die Tür ging oder sie allenfalls eine mickrige Tüte Rosinen bekamen. Aber auch die Art von Haus, wo man keine üblen Scherze trieb, denn es war zu trostlos, zu kaltherzig, als dass ein Streich hier Spaß gemacht hätte.
Mitten auf dem ausgedörrten Rasen stand eine blonde Frau und trommelte mit den Fäusten auf die Brust eines Mannes ein, der vergeblich versuchte, sie zu beruhigen. Ihr
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