Schlangenblut (German Edition)
aus dem Mund. Wölfe und Kojoten bissen sich das Bein ab, wenn sie in eine Falle getappt waren, auch Füchse …
Plötzlich überkam sie eine konzentrierte Ruhe. Sie strich sich über die Innenseite ihres linken Handgelenks, über die alten Narben und den frischen Striemen, der noch immer auf so befriedigende Weise schmerzte, wenn sie daran dachte, wie sie sich ihn zugefügt hatte.
Sie winkelte das Bein an und zog unter der engen Fessel ganz langsam den Socken aus. Das Drahtseil lag genau über den Knochen, die aus beiden Seiten ihres Knöchels ragten, auf ihrer nackten Haut an – so eng, dass sie lediglich den kleinen Finger zwischen das Seil und ihre Haut stecken konnte. Aber das musste genügen.
Sie stocherte herum, maß die schmale Lücke im Geiste ab und kam zu dem Schluss, dass es wohl nicht nötig sein würde, den ganzen Fuß abzutrennen. Erst wollte sie es mit Schmieren versuchen – vielleicht konnte sie ja so das Drahtseil unter das Sprunggelenk schieben. Danach würde sie vielleicht gezwungen sein, ein wenig von dem Fersenpolster abzuschaben, mehr aber auch nicht.
Die Vorstellung machte ihr weder Angst, noch ekelte sie sich davor, ganz im Gegenteil – der Gedanke faszinierte sie. Aber mit einem einzigen Fingernagel würde sie das nie schaffen. Wie lange würde sie brauchen, es abzukauen?
Und war das überhaupt zu schaffen?
Sie schwor sich, dies nur als letztes Mittel einzusetzen. Erst die einfachen Dinge. Sie ritzte mit dem Nagel die Haut über dem Drahtseil auf und empfand den schneidenden Schmerz als Erleichterung, weil er Körper und Geist in einem hochkonzentrierten Augenblick miteinander vereinte.
Sie war am Leben und hatte sich im Griff, und so sollte es auch bleiben. Egal, was dafür nötig war.
KAPITEL 14
Samstag, 17.52 Uhr
Ein siebzehnjähriger Junge mit einem vierzehnjährigen Mädchen. Schreckliche Vorstellung, aber nicht ungewöhnlich. Lucy seufzte, als sie an ihren ersten ernsthaften Freund denken musste – er war siebzehn gewesen, sie fünfzehn.
Hier in Pennsylvania konnte es sich – rein juristisch gesehen – dennoch um Vergewaltigung handeln, da der Altersunterschied zwischen beiden mehr als zwei Jahre betrug. Solange Ashley nicht zum Sex gezwungen worden war. Dann war es definitiv Vergewaltigung.
Falls die beiden überhaupt Sex gehabt hatten. Falls Ashley bei Fegley war. Falls sie überhaupt noch lebte.
Dennoch war es ihre bislang beste Spur. Selbst wenn das vielleicht bedeutete, dass Burroughs in Bezug auf Ashley recht hatte und sie unrecht. Besser falschliegen als irgendwann ein totes Kind finden.
Aber wie war Ashleys Uhr zu Noreens Leiche gekommen? Konnten sie und Fegley den Mord gemeinsam begangen haben? Hatten sie vielleicht den Nervenkitzel gesucht, die pure Freude an der Planung einer solchen Tat, und Noreen gar nicht als realen Menschen gesehen, sondern nur als Objekt zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse?
Lucy hatte die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass ihre Kieferbänder beim Öffnen ein knackendes Geräusch von sich gaben. Hatte sie sich so sehr in ihre Vorstellung von Ashley als bedauernswertem, ungeliebtem Teenager hineingesteigert, dass sie für die Tatsachen blind geworden war?
Falls ja, sollte sie vielleicht doch besser auf ihren Chef hören und an ihrem Schreibtisch sitzen bleiben, statt sich weiter auf die Straße zu wagen.
Sie nutzte den seltenen Fall, dass sie allein im Auto saß, um zu Hause anzurufen. Megan und Nick schauten Football, was bedeutete, dass alles in Ordnung war, sofern Pittsburgh nicht gerade mit zwölf Punkten im Rückstand lag. Sie wollte eigentlich Nick um Rat fragen, brachte es aber nicht übers Herz, das traute Miteinander von Vater und Tochter zu unterbrechen. Auch wenn sie ein wenig eifersüchtig war, weil er und nicht sie selbst ein so gutes Verhältnis zu Megan hatte. Okay, vielleicht mehr als nur ein wenig eifersüchtig.
Am meisten sehnte sie sich nach ihrem kleinen Mädchen zurück. Nach dem Duft des No-More-Tears-Babyshampoos. Nach dem gemeinsamen Singen im Auto und dem Stolz in Megans Augen, immer wenn sie ihre Mutter, die FBI -Agentin, vorstellte.
Diese Zeiten waren lange vorbei, vielleicht für immer.
Als Nächstes rief sie bei ihrer Mutter an. Sie benutzte die Freisprecheinrichtung, weil sie die Dinger am Ohr, die sie an Star Trek erinnerten, nicht ausstehen konnte.
»Lucy, ich dachte, du arbeitest. Hast du das kleine Mädchen gefunden?«, meldete sich Coletta Guardino.
»Noch nicht, aber ich habe
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