Schlangenblut (German Edition)
freien Lauf. »Bitte tun Sie Katie nicht weh, sie ist doch nur ein kleines Mädchen, bitte lassen Sie –«
»Earl, sieh mal nach, ob das, was sie sagt, stimmt. Wenn ja, bring das Mädchen und die Autoschlüssel rein.«
Earl ging. Einer weniger, blieben noch zwei.
»Was wollen Sie?«, fragte Lucy, um Zeit zu gewinnen. Johnny schien kein ernsthafter Gegner. Sorgen machen musste sie sich allein wegen Ivan. Solange sie nicht gefesselt war, konnte sie sich lebend aus der Situation befreien.
»Das werde ich dir sagen.« Ivans Waffe blieb auf ihrer Stirn, doch sein Blick verschwamm, als er im Geiste seine Phantasie durchlebte.
Sie war sich sicher, dass er der Verwirklichung seiner Wunschträume noch nie so nahegekommen war. Sooft er die Situation auch im Kopf schon durchgespielt haben mochte, in der Praxis war er noch Jungfrau.
»Als Erstes kriegst du, was du wolltest. Du darfst zusehen. Earl und Johnny machen ihre Fotos und was sie sonst noch wollen. Danach fahren wir in den Wald, und dann« – sein Mund öffnete sich voller Vorfreude – »bin ich an der Reihe.«
O Gott. Warum konnte nicht einer dieser Verrückten einmal ein bisschen kreativer sein? Immer dieselben alten sadistischen Phantasien, das war fast schon komisch – wäre da nicht diese 9-Millimeter-Pistole auf ihr Gehirn gerichtet.
»Ich kann kein Seil finden«, beteuerte Jonny in gereiztem Ton, nun, da ihr unschuldiger kleiner Ausflug sich urplötzlich als geplanter Mord entpuppte.
»Dann reiß das Lampenkabel ab.«
»Hab ich schon versucht, geht nicht.«
»Dann eben das Telefonkabel. Verdammt, muss ich denn an alles denken?«
Er wich ein klein wenig zurück und blickte nun nicht mehr Lucy, sondern Johnny an. Auf diesen Augenblick hatte sie gewartet.
»Playdate!«, schrie sie.
Im selben Augenblick packte sie Ivans Hand mit der Pistole und drückte sie von sich weg. Er zog fester an ihren Haaren und riss ein ganzes Büschel aus. Die Schwungkraft war auf ihrer Seite, als sie seine Bewegung nutzte und mit voller Kraft hochschoss, um ihm einen so brutalen Kopfstoß unters Kinn zu verpassen, dass ihr der Schädel dröhnte. Sie stieß ihn zu Boden, verdrehte dabei seine Hand mit der Waffe so stark, dass hörbar Knochen brachen, und landete mit dem Knie auf seiner Luftröhre.
Mund und Kinn voller Blut, schrie er auf. Im selben Augenblick knallte die Tür gegen die Wand, und Lucys Leute riefen: » FBI , Waffe fallen lassen, Hände hoch!«
Die Pistole lag längst am Boden, während Ivans Schreien in ein Gurgeln überging und Johnny aufheulte, als ihr Team ihn auf die Knie wuchtete und ihm Handschellen anlegte.
»Wir haben ihn, Lucy.« Fletcher zog sie von Ivan hoch.
Lucy musste sich dazu zwingen, ihre Hände zu öffnen und Ivans malträtiertes Handgelenk loszulassen. Ihr Kopf schmerzte, ihre Kopfhaut brannte, und ihre Übelkeit zwang sie, die Zähne aufeinanderzubeißen.
Schwarze Flecken tanzten vor ihren Augen und erinnerten sie daran, dass sie atmen musste. Sie taumelte nach hinten, als zwei Agenten Ivan auf die Beine zogen und aus der Tür zerrten, die nun in der Mitte stark eingedellt war und schief an nur noch einem Scharnier hing.
»Okay, Leute, das hier ist ein Tatort, also an die Arbeit«, sagte sie und zog ihre Jacke aus, die plötzlich zu eng, zu heiß, zu schwer war.
Kameras blitzten auf, Notizblöcke wurden gezückt. Sie ging rückwärts zur Tür hinaus und überließ den anderen das Sichern der Spuren.
»Sind Sie okay?«, fragte Fletcher. »Die Sanitäter sagen, Ivans Handgelenk ist gebrochen, und er hat sich die Zunge durchgebissen. Gut, dass wir ihn gefilmt haben, solange er noch reden konnte.«
Er folgte Lucy auf dem Weg zu seinem Geländewagen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum die Hecktür aufbekam. Sekundenbruchteile bevor ihre Beine versagt hätten, sackte sie auf dem Trittbrett zusammen.
Schon zum zweiten Mal in zwei Tagen – was zum Teufel war da schiefgelaufen? Weder bei Pastor Walter noch bei den Kanadiern hatte es die geringsten Hinweise darauf gegeben, dass sie gewalttätig sein könnten, und doch waren sie und ihr Team zweimal in eine lebensbedrohliche Situation geraten. Greally würde ihr dafür bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.
»Dann haben Sie also alles aufgezeichnet?«, fragte sie schwerfällig mit trockenem Mund.
»Klar und unmissverständlich.« Er lehnte an der Motorhaube, die Arme vor der Brust verschränkt und aufgeplustert, als wäre er mit ihr da drin gewesen, statt nur zuzuhören
Weitere Kostenlose Bücher