Schlangenblut (German Edition)
an, der unter dem Stahlseil pulsierte, an dem sie angebunden war. Da sie nichts sehen konnte, hatte sie ihn nicht so präzise bearbeiten können, wie sie es sonst getan hätte.
Alles vergebens. Behutsam streckte sie sich und hörte zu, wie ihre Gelenke knackten und ächzten wie die einer alten Frau. Wie lange war sie jetzt schon hier? Und wann kam er wieder?
Und wann fing er an?
Denn nach ihren stillen, stinkenden Gefährten zu urteilen, hatte sie das Schlimmste noch vor sich.
Ihre Augen brannten von Tränen, die nicht fließen wollten. Als sie über sie wischte, spürte sie an ihrem Finger nur winzige Salzkörner. Trotz ihres Durstes musste sie immer noch pinkeln. Sie machte sich an die mühselige Aufgabe, nach dem Nachtstuhl zu suchen.
Besser jetzt, als in die Hose machen, wenn er damit begann. Vielleicht würde sie ja sterben, aber sie wollte ihm nicht den Spaß gönnen, sich vor ihm zu demütigen.
Wenn es zu schlimm wurde, würde sie sich einfach wieder wegtreiben lassen, an ihren Ort der Stille.
Und wenn sie Glück hatte, würde sie nie wieder zurückkehren.
KAPITEL 23
Sonntag, 9.44 Uhr
An der Information hatte sich eine Schlange gebildet, doch Lucy wollte nicht warten. Sie joggte durch den Flur, immer den Schildern nach, auf denen »Kinder-Notaufnahme« stand, nur um an einem weiteren Empfangstresen mit einer weiteren Menschenschlange davor anzukommen.
Hier warteten noch mehr Leute in kleinen Gruppen inmitten von schreienden Babys, schniefenden Kleinkindern und hustenden Jugendlichen. Hinter einer Schwester am Empfang winkte eine offene Tür, hinter der weiß gekachelte Wände das helle Licht reflektierten und Frauen und Männer in OP -Kitteln und Labormänteln zwischen den einzelnen Räumen hin und her hasteten.
Lucy ging forsch an der schwerbeschäftigten Empfangsdame und Schwester vorbei und merkte erst, als sie die Türschwelle überschritt, dass diese mit einem Metalldetektor ausgestattet war. Der Alarm ging los, Babys schrien, und zwei schwerfällige Wachmänner rannten durch den Flur auf sie zu, um sie aufzuhalten.
»Stellen Sie sich an die Wand, Madam«, forderte der eine sie auf und versperrte ihr den Weg, während der andere sich ihr vorsichtig von der Seite näherte.
Lucy reagierte mit dem Instinkt einer Polizistin und drehte sich, um ihre Waffe abzuschirmen und ihre Schusshand frei zu haben. Dabei rutschte ihre Jacke zurück und gab den Blick frei auf die 32er an ihrer Hüfte.
»Schusswaffe!«, schrie der zweite Wachmann mit so hoher Stimme, dass Lucy ihm – nicht zuletzt auch wegen seines muskulösen Körpers und seines pockennarbigen Gesichts – instinktiv den Missbrauch anaboler Steroide unterstellte. Er fummelte an seinem Holster herum, zog tatsächlich seine Waffe und richtete sie auf Lucy.
»Beruhigen Sie sich«, rief sie laut, um das Getrampel und die Schreie zu übertönen, während sich das Wartezimmer leerte und Frauen und Kinder das Weite suchten. »Ich bin im Dienst. Würde vielleicht jemand den verdammten Alarm ausschalten?«
Keiner der beiden Wachleute schien sie zu hören, und nun hielten beide ihre Waffen auf sie gerichtet, die Beine weit gespreizt, die Gesichter schweißgebadet und von tiefen Falten der Angst durchzogen. Die Hand des zweiten Mannes zitterte so sehr, und er blinzelte so hektisch, dass Lucy schon glaubte, er würde jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Sie wollte den Pseudo-Polizisten lieber nicht erklären, dass sie viel zu dicht bei ihr standen und für sie somit leichte Ziele geboten hätten, falls sie die Absicht gehabt hätte, sie anzugreifen.
Stattdessen hob sie die Hände zum Zeichen der Aufgabe und legte die eine auf den Kopf, während sie mit der anderen ihre Jacke am Revers öffnete. »Nehmen Sie sie schon, aber seien Sie bitte vorsichtig. Im Lauf steckt noch eine Patrone.«
Sie zögerten und tauschten Blicke, denen sie entnahm, dass keiner von beiden den Mumm aufbrachte, sich dieser ach so einschüchternden, einen Meter fünfundsechzig großen und sechzig Kilo schweren Bedrohung für die Gesellschaft zu nähern. Im nächsten Moment verstummte der Alarm, und sie standen ratlos im leeren Flur.
»Ich bin vom FBI «, erklärte Lucy ruhig und hoffte, dass ihr Tonfall schwerer wiegen würde als ihr Äußeres. Sie hatte ganz vergessen, dass sie noch immer enganliegende Jeans trug und das Make-up einer Wohnwagen-Schlampe. »Meine Tochter wurde im Krankenwagen hierhergebracht, und ich habe davon mitten in einem Einsatz erfahren. Meine
Weitere Kostenlose Bücher