Schlangenblut (German Edition)
nach Hause?«
»Erst wenn sie herausgefunden haben, was dir fehlt.«
»Aber morgen ist doch Fußball –«
»Megan«, blaffte Lucy sie an und bedauerte augenblicklich, dass ihre Ungeduld ihrem Tonfall anzumerken war.
Megan aber zuckte nicht einmal zusammen. Stattdessen setzte sie ein durchtriebenes Lächeln auf, und Lucy war klar, dass sie sie auf den Arm genommen hatte. Eine Zwölfjährige. Wieder einmal.
»Fußball spielst du erst wieder, wenn die Ärzte es erlauben.«
»Hmm«, brummte Megan in ihrem Kopfkissen, »wenn ich im Bett bleiben muss, brauche ich wohl ein paar Videospiele. Oder einen Laptop, einen mit DVD -Player und –«
»Megan Constance Callahan, wie kommst du auf die Idee, dass du Geschenke kriegst, nur weil du krank bist?«, fragte Lucy.
Nick errötete und wandte den Blick ab. Da hatte sie ihre Antwort.
»Wenn du länger hierbleiben musst als bis morgen« – warum nicht das Beste hoffen –, »besorge ich dir das neue Evan-Bedard-Buch, das du dir gewünscht hast.«
»Dann muss ich nicht warten, bis es als Taschenbuch erscheint? Das ist echt cool«, freute sich Megan und rieb sich die Hände. Geschafft.
Es klopfte an der Tür, und herein kam eine Hilfskraft, die einen großen Rollwagen mit einem Fernseher darauf vor sich herschob. »Ich bin Melody von Child Life«, zwitscherte die Frau. »Deine Krankenschwester hat mir erzählt, dass du gern ein paar Videospiele hättest.« Sie stellte den Wagen am Fußende des Bettes ab und reichte Megan eine futuristisch aussehende Fernbedienung mit Kippschalter und Tastatur, die es mit allem aufnehmen konnte, was die NASA zu bieten hatte. »Soll ich dir zeigen, wie’s geht?«
Megan schüttelte den Kopf und hüpfte vor Freude auf dem Bett auf und ab, als sie das Ding einschaltete und ein Spiel fand, das ihr gefiel. Aus den Lautsprechern dröhnte grelle Musik.
Lucy folgte der Hilfskraft zum Stationszimmer. »Haben Sie schon was von den Ärzten meiner Tochter gehört?«
»Tut mir leid, Mrs Callahan«, antwortete die Stationsschwester. »Dr. Scott hat noch in der Intensivstation zu tun, aber er hat gesagt, dass er noch immer auf Megans Untersuchungsergebnisse wartet und so bald wie möglich hochkommt, um mit Ihnen zu reden.«
Lucys Lächeln strapazierte ihre Gesichtsmuskulatur, während sie sich zusammennahm, um ihre Frustration nicht an der Angestellten auszulassen. Die Eispickel und Vorschlaghämmer droschen auf die Nerven um ihr Gesicht ein, und der Schmerz schoss ihr durch Kiefer und Nacken. Sie lehnte sich an den Schreibtisch und steckte sich die Finger in beide Ohren, um den Druck zu lindern. Dann blickte sie hoch zu den leuchtend gelben Smileys und erinnerte sich daran, dass ihre Tochter im Zimmer gegenüber vor Freude quietschte – und nicht etwa auf der Intensivstation lag.
Doch der Gedanke beruhigte sie nicht, denn plötzlich sah sie vor ihrem inneren Auge Megan, wie sie in der Intensivstation um ihr Leben kämpfte, aschfahl und ausgezehrt, und mit kahlem Kopf und geschlossenen Augen um jeden Atemzug rang.
Diese Vision entstammte nicht ihrer Phantasie. Genau so hatte ihr Vater unmittelbar vor seinem Tod ausgesehen.
Panik ergriff ihr Herz, ihr blieb die Luft weg, als müsste sie an ihrer Angst ersticken. Auf einmal war ihr so übel, dass sie ihre Umgebung nur noch verschwommen wahrnahm, während sie durch den Flur zur Toilette taumelte, vor der Kloschüssel zu Boden sank und den Kopf zwischen die Knie steckte. Wegen der geschlossenen Tür war es dunkel, abgesehen vom Licht einer Notruftaste. Säuerliche Krankenhausgerüche stürzten auf sie ein: Bleichmittel, Fliesenreiniger, Seife und Deodorant mit Vanillearoma. Doch sie alle konnten nicht den Geruch von Tabakrauch überdecken – offenbar hatte jemand auf der Toilette heimlich eine Zigarette geraucht.
Der Gestank brachte das Fass zum Überlaufen. Zigarettenrauch hatte bei Lucy immer schwere Übelkeit verursacht, seit ihr im Kindesalter klargeworden war, was sie ihrem Vater angetan hatte. All die heimlichen Gänge auf den Markt, wo sie ihm und seinen Mitpatienten Zigaretten gekauft hatte, ohne zu begreifen, dass ein Mann, dem aufgrund von Lungenkrebs die linke Lunge und der größte Teil der rechten fehlte, seine Sucht und seine Tochter dazu benutzte, das Sterben zu beschleunigen.
Überwältigt von ihrer Angst und den Erinnerungen und Gerüchen, beugte Lucy sich vor, um sich zu übergeben. Als alles raus war, zitterte sie unkontrollierbar am ganzen Leib. Sie legte sich auf den
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