Schlangenhaus - Thriller
tief am Himmel. Ich fuhr in die Stadt hinein, fast bis zum Meer, dann hielt ich am Straßenrand an und überprüfte die Wegbeschreibung. Offenbar hatte ich zu abrupt gehalten, denn ein kleiner silberner Kombi fuhr fast auf mich auf. Ich drehte mich um und wollte dem Fahrer entschuldigend zuwinken, doch der ließ den Motor aufheulen, und der Wagen schoss um mich herum und den Hügel hinab. Nachdem ich achtsamer auf die Straße geschaut hatte, fuhr ich wieder los und bog rechts ab. Am Ende der öffentlichen Straße musste ich aussteigen, eine alte hölzerne Schranke heben und eine Privatstraße entlangfahren, die nicht viel mehr als ein Feldweg war. Jetzt befand ich mich auf dem Lyme Undercliff, ein Naturschutzgebiet, in dem man seltene Pflanzen und Insekten findet, die nirgends sonst auf den Britischen Inseln heimisch sind. Und außerdem den international bekannten Herpetologen und Fernsehstar Sean North.
Ich erreichte das Ende des Weges und parkte neben dem mir wohlbekannten Land Rover. Dann stieg ich aus, klemmte das dünne, leichte Päckchen unter den Arm und ging zu dem kleinen Cottage hinunter, das zwischen jungen Eschen stand. Es war blau gestrichen und sah aus wie eine Strandhütte. Ich hatte das Haus schon viele Male gesehen und mich dabei stets gefragt, wer wohl an einem solchen Ort wohnte.
Als ich zur Haustür ging, fühlte ich die Nervosität wie hüpfende Grillen in meinem Magen. Anklopfen war nicht nötig.
»C«, stand auf dem Zettel, der an das Holz geheftet war. »Sie sind zu spät.« Mehrere Ausrufungszeichen. »Gehe mir ein
Nest ansehen«, ging es weiter. »Wenn Sie doch noch auftauchen, warten Sie. Bin bald zurück. S.«
Einen Augenblick lang erwog ich, das Päckchen auf der Schwelle zurückzulassen und ihn morgen früh anzurufen. Vor einer Woche hätte ich es wahrscheinlich getan – trotz meines Versprechens, es nicht aus den Augen zu lassen. Doch ich hatte kein Verlangen danach, eilig nach Hause zu fahren, in das Dorf, in dem es vor Schlangen und Geheimnissen wimmelte.
Also ging ich zu dem Küstenpfad zurück, machte mich daran, seinem gewundenen Verlauf tiefer ins Undercliff hinein zu folgen, und wartete darauf, dass eine Brise vom Meer her die Baumwipfel in Bewegung versetzte. Ich wusste, dass dann kleine Lichtpunkte im Unterholz tanzen würden, wie Münzen, die von der Hand eines Riesen verstreut wurden.
Erdrutsche, die an diesem Teil der Küste recht häufig sind, haben das berühmte Lyme Undercliff seit Jahrhunderten geformt. Und auch heute verändert es sich immer noch. Der bedeutendste Erdrutsch in jüngster Zeit, der das Undercliff, das man heute sieht, weitgehend geschaffen hat, ereignete sich zu Weihnachten 1839. Zwei Tage lang brachen ungefähr sechzehn Morgen Land, etwa acht Millionen Tonnen Fels, einschließlich Weizen- und Rübenfelder, von der Steilküste ab und rutschten aufs Meer zu, wobei sich ein Spalt von vierzig Metern Tiefe und fast anderthalb Kilometer Länge auftat. Seither sind die steilen Seitenwände durch die Witterung und durch kleinere Erdrutsche weiter erodiert und dicht, fast dschungelartig überwuchert.
Im Laufe der Jahre hat das Undercliff Geologen, Botaniker und Paläontologen gleichermaßen in seinen Bann geschlagen, jeden auf seine Weise, und mich ebenfalls. Es fasziniert mich, dass Jahrhunderte der Verwüstung einen so friedlichen Ort hervorbringen können und dass seine Schönheit solche Gefahr verbergen kann. Unterschätzt das Undercliff niemals, hatte mein Dad immer gesagt, so ziemlich jedes Mal, wenn wir
hier gewandert waren. Ihr seid vielleicht nur einen Kilometer oder so von der Stadt entfernt, aber wenn man vom Weg abkommt, einen Unfall hat – verborgene Spalten und Klüfte gibt es dort zuhauf –, kann es Tage dauern, bis sie einen finden.
Ich kam zu einer hölzernen Bank und setzte mich. Die Sonne schickte sich an unterzugehen, und es war kein stiller Abgang. Gewaltige Lichtstrahlen verwandelten die tanzende Brandung in eine leuchtend silbrig-weiße Masse.
Ich saß da, starrte aufs Meer hinaus und fragte mich, was ich tun würde, wenn ich auf die eine oder andere Weise die Herkunft der Schlangenhaut in dem braunen Umschlag bestätigt hatte. Natürlich gar nichts, das war die einzig vernünftige Antwort. Ich war Tierärztin für heimische Spezies. Ich behandelte Kaninchen und Igel. Und doch …
Der alte Mann, den ich zweimal gesehen hatte, hatte große Ähnlichkeit mit Walter Witcher. Und der hatte vier Brüder gehabt. Ich war mir sicher,
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