Schlangenkopf
erlischt es, und so hat auch die alte Angst, die Angst von früher, alles aufgefressen. Einen Augenblick lang hab ich gar nichts mehr empfunden. Aber dann hat er sich auch schon umgedreht und gesagt, ›na schön!‹, und ist an mir vorbei zur Tür gegangen, mit diesem wiegenden Schritt, als hätte er Reiterstiefel an und den Revolver umgeschnallt.«
Für einen Augenblick lässt Dingeldey den Stift sinken und wirft einen prüfenden Blick auf Zlatan Sirko. Für Berndorf, der ihn dabei beobachtet, scheint es klar, was dem Anwalt durch den Kopf geht: Wie gut – oder genauer: wie belastbar ist ein Zeuge, der sich vor allem an seine Angst erinnert?
»Sie haben ihn also von Angesicht zu Angesicht gesehen?«, setzt Dingeldey die Befragung fort.
»Von Angesicht zu Angesicht? Ich weiß nicht, was das sein soll. Ich habe gesehen, dass er grau geworden ist und keinen Schnurrbart mehr trägt.«
»Hat er Sie erkannt?«
Zlatan schüttelt den Kopf. »Wie sollte er? Ein Häftling ist ein Häftling. Der hat kein Gesicht. Ein Zimmerkellner auch nicht. Nicht für Leute wie Mesic.«
Das könnte ein Irrtum sein, geht es Berndorf durch den Kopf. Ein Mensch wie Jovan Mesic, der so darauf bedacht ist, dass die anderen auf ihn warten müssen – sollte der eine Szene vergessen können, in der ausnahmsweise nicht er das Alphatier war? In der nicht er die anderen, sondern ein anderer ihn zur Schnecke gemacht hat?
»Hat er im weiteren Verlauf noch eine persönliche Bemerkung zu Ihnen oder über Sie gemacht?«, will Dingeldey wissen.
Zlatan blickt auf. »Es gab nichts zu beanstanden. Ich bin Profi.«
»Da habe ich keinen Zweifel«, begütigt Dingeldey. »Trotzdem: kein auffälliger Blick? Dass er Sie vielleicht von der Seite beobachtet oder gemustert hätte?«
»Ich glaube, ich kann das ausschließen«, meint Zlatan. »Ich hätte es bemerkt. Es wäre ein Zeichen gewesen, dass ich etwas nicht richtig mache. Wir haben zu servieren, und sonst gibt es uns sozusagen gar nicht.«
»Ist Ihnen an den Besuchern etwas aufgefallen?«
Zlatan überlegt. »Bis auf den Monsignore kamen mir die meisten wie Anwälte vor. Einer war etwas bunter angezogen als die anderen und hatte eine Fliege umgebunden statt einer Krawatte – das könnte ein Architekt gewesen sein. Während ihrer Besprechung wollten sie nicht gestört werden, erst danach hatte ich Champagner zu bringen. Aber keiner trank mehr als ein oder zwei Gläser. Sie waren alle sehr auf der Hut, obwohl sie sich offenbar einig wurden.«
»Offenbar?«
»Sie beglückwünschten sich, aber vor allem den Geistlichen, den Monsignore.«
Dingeldey wirft einen prüfenden Blick auf seine Notizen, und für einen Augenblick herrscht Schweigen. Barbara greift nach dem Volksblatt, das sie mitgebracht hat, und schlägt den Lokalteil auf. »Einen Augenblick«. Sie zeigt auf einen Artikel über den geplanten Ausbau einer Kirchenruine, in den Artikel ist das Foto eines rundköpfigen Mannes mit weißen Stoppelhaaren und einem Priesterkragen eingeblockt. Die Bildunterschrift weist ihn als Monsignore Johann Baptist Feichtmayr aus. »Ist das dieser Priester?«
O lga muss über Hügel und durch Wälder hindurch bis nach Neubukow fahren, um doch noch eine Tankstelle zu finden, bei der sie einen Kanister bekommt und ihn mit Mineralöl füllen kann. Im Laden kriegt sie dann sogar Feueranzünder, wie man sie für den Kamin oder den Holzofen braucht, und die blonde Verkäuferin mit den aufgepumpten Lippen zieht nicht einmal die Augenbrauen hoch, als sie an der Kasse die Preise für Kanister, Dieselöl und Feueranzünder eintippt. Trotzdem wird sie sich an mich erinnern, denkt Olga und bezahlt bar, manche Dinge sind eben nicht zu ändern. Sie geht wieder zu ihrem Wagen und steigt ein, schaltet aber – noch bevor sie losfährt – die Innenbeleuchtung ein und vergewissert sich anhand der Straßenkarte, dass sie das Dorf vom Salzhaff her anfahren kann. Das hat den Vorteil, dass sie zu diesem Sportplatz kommt, ohne an dem kleinen Haus vorbeifahren zu müssen.
Sie löscht die Innenbeleuchtung wieder, legt den Gang ein und verlässt die Tankstelle. Nach weniger als ein paar hundert Metern biegt sie links ab, vereinzelt stehen links und rechts der Straße noch ein paar Häuschen, dann kommen nur noch Wald und Weide. Später, im unverhofften Mondlicht, ein weites unbewegtes Gewässer, das Salzhaff? Plötzlich ein Wegweiser nach scharf rechts, fast wäre sie daran vorbeigefahren. Der Fahrweg zum Dorf ist von Schlaglöchern
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