Schlangenkopf
richtig ist an dem, was er gedacht hat, denn alles was geschieht, hat eine Fortsetzung und ist selbst die Fortsetzung von etwas anderem, und wenn er selbst einen Comic zeichnen könnte, dann dürfte es darin gar kein Ende geben.
Er steht auf und holt aus dem String-Regal die vorigen Bände über die Stadt im Krieg und hat auch mit einem Griff die Seite aufgeschlagen, an die er als erste gedacht hat – es ist der Teil der Geschichte, als die U-Bahn-Schächte geflutet werden und nur der Junge den einzigen Tunnel kennt, der zu einem Ausgang führt. Und richtig – unter den Leuten, die dem Jungen dort folgen, ist auch ein Mädchen, und sie hat ihren kleinen Bruder an der Hand, und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass das Mädchen eben jenes ist, dem der Junge zwei Bände später die Zigaretten gibt.
André merkt, dass er Hunger hat. Draußen ist es dunkel geworden, am Tisch in Elkes Zimmer hockt noch immer der Bilch vor dem Notebook und wühlt sich durch die Dateien.
»Ich mach mir noch einen Pfannkuchen«, teilt André mit. Ob der Bilch auch einen will? Pfannkuchen hatte es schon zu Mittag gegeben, der Bilch hatte den Teig angerührt, und es ist noch genug davon übrig.
»Wie? Was? Pfannkuchen?«, fragt der Bilch, »ja natürlich, nur zu, was fragst du!« Dann ist er schon wieder in das Notebook versunken, so dass André nun doch neben ihn tritt und den Text zu lesen versucht, den der Bilch aufgerufen hat.
»Was hast du da? Staatsgeheimnisse?«
»Staatsgeheimnisse? Ich weiß nicht. Da geht es um eine Bank, aber keine solche wie die Sparkasse um die Ecke, wo die Elke immer wieder wegen einem Überziehungskredit hat betteln müssen, sondern um so eine richtig feine kleine Bank, die würden den armen alten Bilch nicht mal mit einer Feuerzange anfassen, so fein sind die … und plötzlich« – der Bilch ruft eine Datei auf, auf dem Bildschirm erscheint die Wiedergabe eines buntfarbigen Prospekts, mit Grafiken und Bildern von großen Hotels und Yachthäfen, dazu ganze Zahlenkolonnen, von denen einzelne mit einem Marker gekennzeichnet sind – »… plötzlich bolzt die kleine feine Privatbank Oheymer und Jaumann mit Umsatzzahlen, dass unsereins nur noch glotzen kann. Und weißt du, was das Besondere daran ist?«
André zuckt die Schultern und will sagen, dass er jetzt vielleicht doch die Pfannkuchen backen will, aber der Bilch legt ihm die Hand auf den Arm:
»Das Besondere daran ist, dass die kleine feine Bank ihre Geschäfte vor allem da unten macht, also in Italien und in Jugoslawien, wie das früher hieß, du warst doch schon mal dort? Und dass diese Geschäfte erst so richtig in Fahrt kommen, wenn da unten Krieg ist, richtiger Krieg mit Leuten, die totgeschossen werden, und Dörfern und Städten, die man zu Schutt und Asche bombt, und was da sonst so alles passiert. Wie kann einer mit Schutt und Asche und totgeschossenen Leuten Geld machen? Sag mir das mal!«
André hat einen Einfall. »Die Bank wettet …« Dann zögert er. Das ist dumm, denkt er, Banken wetten doch nicht!
»Weiter!«, befiehlt der Bilch, »das ist schon ganz heiß!«
»Also …« – André versucht einen neuen Anlauf – »im Krieg gibt es einen, der gewinnt, und einen, der verliert. Und vielleicht hat die Bank auf den Richtigen gewettet, also auf den Gewinner, wie im Toto …«
»Mein lieber Freund«, sagt der Bilch, »ich bin stolz auf dich. Du hast es erfasst. Die Bank hat auf den Gewinner gesetzt. Das funktioniert nicht ganz so wie im Fußball, aber fast … Aber jetzt geh und eile und back Pfannkuchen!«
N ach einigen Kilometern verlässt die U1 das unterirdische Streckennetz und fährt auf ebenerdiger Trasse weiter. Berndorf wirft einen Blick auf das Verzeichnis der Haltestellen, das oberhalb des Einstiegs angebracht ist: Nur ein paar Stationen noch, dann wird er aussteigen und den Weg zur Trajanstraße nehmen, das müssten dann nur noch ein paar hundert Meter sein. Freilich, die U 1 macht dann einen größeren Bogen, er könnte also bis zur Station Nordweststadt fahren und hätte es von dort nicht viel weiter … Aber eigentlich will er keine weitere Zeit verlieren.
Durch das Fenster sieht er eine beleuchtete Straße, dahinter die Lichter von Wohnblocks. Dann ist wieder Nacht. Es sind nicht mehr viele Fahrgäste in seinem Wagen, er betrachtet sie – nun ja, wie jemand, der Leute anguckt, weil er nichts zu lesen dabeihat und weil es zu langweilig geworden ist, vor sich hin zu starren. Die Fahrgäste der Frankfurter U-Bahn
Weitere Kostenlose Bücher