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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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die Straße schmeißen können und behaupten können, Sie wären von einem Lastwagen überfahren worden...«

    Maureen wollte von meiner Behauptung, dass Annie ihre »Beschützerin« gewesen sei, nichts wissen. Das wäre reiner Quatsch, erklärte sie. Annie hätte sie gehasst. Ich wiederholte, was sie mir selbst erzählt hatte – dass Annie drüben jedes Mal, wenn Derek laut geworden war, angefangen hatte zu jammern und zu schimpfen.
    »Sie haben mich heute gefragt, wer sich je um Sie gekümmert habe«, sagte ich. »Annie hat sich um Sie gekümmert, Maureen. Ich weiß, das ist nicht das, was Sie hören wollen, aber es ist so.« Ich nahm zwei Briefe aus meinem Rucksack und schob sie über den Tisch.
    »Der obere ist die Kopie eines Schreibens, das sie an den damals für die Graham Road zuständigen Gemeinderat J.M. Davies geschickt hat. Das war im Juni 1978. Der Brief darunter ist seine Antwort. Sie wusste offensichtlich nicht, wie man Ihren Namen schreibt, und da sie anscheinend ziemlich wirr redete, als sie später den Gemeinderat anrief, unternahm der nichts und vermutete Böswilligkeit hinter dem Schreiben.«
    Maureen war ihr Unbehagen anzusehen, als sie den ersten Brief las. Es war, als besäße er selbst in Kopie noch die Macht, Annie zu uns ins Zimmer zu holen. »Vielleicht war es ja Böswilligkeit«, sagte sie, als sie das Blatt aus der Hand legte. »Vielleicht wollte sie mir und Derek Scherereien machen.«
    »Jetzt reicht's aber wirklich.« Ich stieß einen Seufzer der Ungeduld aus. »Wenn das ihre Absicht gewesen wäre, wäre sie ganz anders vorgegangen. Sie hätte die Gemeinde mit Briefen bombardiert, mit anonymen Briefen wahrscheinlich, und hätte sich bestimmt nicht damit begnügt, Derek der Tierquälerei zu beschuldigen. Sie hätte alle Welt wissen lassen, dass er Tiere tötete. Können Sie denn nicht sehen, dass ihre Sorge
Ihnen
galt? Sie schreibt: ‘Ich wollte Sie bitten, etwas für Morin zu tun’, und nicht: ‘Man muss gegen das weiße Pack nebenan etwas unternehmen, weil diese Leute mich dauernd bestehlen’.«
    Sie fummelte nervös an ihrer Zigarettenpackung herum. »Das wäre eine Lüge gewesen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »O nein. Alan schenkte mir zum Schuljahresende eine kleine Holzfigur, von der er behauptete, er hätte sie selbst aus einem alten Tischbein geschnitzt. Ich glaubte ihm, weil es ein sehr primitives Stück ist, das ein Kind gemacht haben könnte, aber ich bin heute sicher, dass er es Annie gestohlen hat.«
    »Das können Sie nicht beweisen.«
    »Nein«, gab ich zu, »aber ich kann beweisen, dass
er
die Figur nicht geschnitzt hat. Ich habe sie von einem Fachmann ansehen lassen. Es ist die Darstellung einer Aztekengottheit namens Quetzalcoatl, und sie wurde aus einem Stück Kiefernholz geschnitzt. Wahrscheinlich um die Jahrhundertwende. Im Stil entspricht sie den Schnitzereien der Eingeborenen Mittelamerikas um diese Zeit. Annies Vater hat in den Dreißiger- und Vierzigerjahren mittelamerikanische Kunst- und Gebrauchsgegenstände gesammelt. Es spricht also alles dafür, dass der Quetzalcoatl in meinem Besitz einmal Annie gehörte. Die einzige Frage ist: Hat sie Alan die Figur geschenkt oder hat er sie gestohlen?«
    Maureen schnappte den Köder sofort. »Sie hat sie ihm geschenkt.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Sie überlegte einen Moment. »Er hat mal was für sie erledigt – und sie hat sich so dafür bedankt. Übrigens war ich diejenige, die ihm vorgeschlagen hat, Ihnen die Figur zu schenken. Er hat mir dauernd erzählt, wie nett Sie sind und dass Sie ihn damals nicht verraten haben, als er in Ihrer Tasche gewühlt hat. Na schön, dann bedank dich bei ihr, hab ich gesagt. Mrs. Ranelagh weiß so eine Holzfigur bestimmt mehr zu schätzen als du.«
    »Warum hat er mir dann erzählt, er hätte sie selbst geschnitzt?«
    Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Ich nehme an, er wollte Ihnen imponieren.«
    Ich lachte. »Es hätte mir weit mehr imponiert, wenn er gesagt hätte, dass er sie sich mit einer Besorgung für Annie verdient hatte. Er hat ihr auf der Straße immer ‘blödes Niggerweib’ nachgerufen. Einmal ist sie wütend geworden und hat ihn am Jackenärmel gepackt. Er bekam einen solchen Schreck, dass er aus der Jacke geschlüpft und schnurstracks davongelaufen ist.« Ich hielt kurz inne. »Niemals hätte sie ihn gebeten, eine Besorgung für sie zu erledigen – und wenn doch, hätte sie ihm zum Dank bestimmt nicht eines dieser Stücke geschenkt, die ihr so teuer waren. Sie

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