Schlankheitswahn (Ein Fall für Lizzy Gardner) (German Edition)
Lizzy etwas nicht gefiel, ließ sie es einen wissen. Und wenn siefand, dass jemand gute Arbeit geleistet hatte, geizte sie nicht mit Lob.
»Als er deinen Finger mit dem Messer berührt hat«, fuhr Brittany etwas lauter fort, »habe ich geschrien wie am Spieß. Ich weiß noch genau, wie ich die Augen ganz fest zugedrückt habe. Ich wollte ihm nicht den Gefallen tun, mit ansehen zu müssen, wie du leidest. Ich dachte, er würde es wirklich tun, dir auch noch den anderen Finger abschneiden.«
Er hatte
tatsächlich
in Hayleys Mittelfinger geschnitten. Dabei hatt er den Finger zwar nicht durchtrennt, aber dafür gesorgt, dass es höllisch blutete. Die Ärzte konnten den Mittelfinger retten – und so hatte sie nur ihren kleinen Finger verloren.
»Und genau diese Szene sehe ich jede Nacht vor mir«, sagte Brittany, »sobald ich die Augen schließe.«
»Du siehst das Blut?«, fragte Hayley.
»Nein, ich sehe deinen blutigen, abgetrennten Finger auf dem Boden liegen. Sonst nichts, nur einen blutigen Finger.«
»Mein Finger ist unglaublich gut verheilt. Ich kann ihn einwandfrei bewegen. Gerade die letzten Monate kam er oft zum Einsatz.« Hayley hob die Hand und zeigte Brittany den Stinkefinger. »Sieht zwar nicht gut aus, aber er funktioniert.«
Brittanys Lächeln wirkte leicht aufgesetzt. Nicht gerade der Lacher, auf den Hayley gehofft hatte.
»Ich will deine Albträume nicht lächerlich machen, Brittany, aber du solltest nie vergessen, dass
wir
beide« – sie deutete mit dem Finger auf sich und Brittany – »unverschämtes Glück hatten. Der Spinnenmann war ein furchtbarer Mensch, aber jetzt ist er tot. Ich will dir damit nicht sagen, lass das Erlebte gut sein, denn das ist leichter gesagt als getan. Aber ganz unter uns sage ich dir, vergiss den Kerl. Selbst wenn das Arschloch mir alle fünf Finger abgeschnitten hätte, würde ich nicht anders reden. Ich möchte, dass du in Zukunft, wenn du die Augen schließt und meinen blutigen Finger siehst, an deine Tante Lizzy denkst. Sie musste monatelang hilflos zusehen, wie der Dreckskerl unschuldige Menschen gefoltert hat. Diese Mädchen hatten nicht so viel Glück wie wir. Verstehstdu das nicht? Es ist unsere Aufgabe, für sie weiterzuleben. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir so gut wie tot. Das Leben ist viel zu kurz … ich weiß, das klingt wie ein total abgedroschenes Klischee, aber jedes Mal, wenn bei mir die schlimmen Erinnerungen hochkommen, sage ich diesen Spruch auf. Ob ich jetzt acht oder neun Finger habe, ist doch egal. Lass es nicht zu, dass der Spinnenmann dich immer noch im Griff hat. Lass es bloß nicht zu.«
Sie schwiegen beide für einen Augenblick, bevor Hayley fortfuhr: »Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit dir heute Abend darüber zu reden. Aber vor ein paar Wochen habe ich etwas gefunden, das ich dir gerne geben möchte.«
Hayley ging zu der Stelle nahe der Tür, wo ihr Rucksack auf dem Boden lag. Sie kramte darin herum und holte schließlich ein Foto heraus, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Dann ging sie zur Couch zurück, händigte Brittany das etwa fünf mal fünf Zentimeter große Foto aus und wartete auf ihre Reaktion.
Eigentlich hatte Hayley mit einem verwirrten Blick gerechnet. Als Brittany schließlich mit einem Lächeln zu ihr aufsah, war sie zutiefst überrascht.
»Ich hab gehört, das war dein absoluter Lieblingsfilm, bevor die ganze Scheiße passiert ist.«
Brittany nickte und starrte dann wieder auf das Bild, das Tobey Maguire kurz vor der berühmten Kussszene aus dem Film »Spider-Man« zeigte – der echte Spinnenmann, nicht der Serienkiller, der sich nach ihm benannte.
»Wenn du das nächste Mal an den Spinnenmann denken musst«, sagte Hayley, »dann denk an dieses Bild. Lass dir von diesem Arschloch nicht dein Leben ruinieren. Die Erinnerungen an die Szene, wo Peter Parker mit dem Kopf nach unten hängt und Mary Jane ihn küsst, kann dir niemand wegnehmen. Wir sind doch kluge Köpfchen, Brittany.«
Brittany sah sie wieder an und Hayley lächelte. »Dann wollen wir uns auch wie kluge Köpfchen benehmen.«
»Ich wusste nicht, dass Wandern mit auf dem Programm stand«, jammerte Lizzy.
Cathy lachte. »Ich hatte es mir schon gedacht, als ich die Liste mit den Sachen gesehen habe, die wir mitbringen sollten. Wanderstiefel waren da auch dabei.«
»Na ja, wenigstens weiß ich jetzt, warum es immer hieß, du wärst die Schlaueste in unserer Familie.«
Cathy sah Lizzy über ihre Schulter hinweg
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