Schlecht aufgelegt (German Edition)
die Deutsche Bahn, deren Mitarbeiter hinter den Schaltern gewohnheitsmäßig ignorierten, abwiegelten und auf später vertrösteten. Der Bahnhof Zoo hatte so gar nichts mehr mit dem Bahnhof Zoo zu tun, mit dem Paul aufgewachsen war, jenem Bahnhof Zoo, über den es diesen berühmt-berüchtigten Film gab, den sie in der Schule gucken mussten und an dessen Ende sie sich alle geschworen hatten, niemals auch nur eine einzige Droge zu sich zu nehmen, um ja nicht an diesem Ort des Grauens zu stranden.
Paul betrat den Zeitschriftenladen, der die Ausstrahlung des Frankfurter Börsenparketts mitten in der Finanzkrise besaß. Der Bahnhof Zoo hatte insgesamt deutlich an Strahlkraft und Zustrom verloren, seit es den neuen Berliner Hauptbahnhof gab, aber dennoch rissen die Reisenden den Verkäufern die Zeitungen hier fast aus den Händen. Palettenweise wurden Magazine nachgelegt, die Schlange vor der Kasse führte durch den halben Laden, zuckend, wabernd, immer in Bewegung. Ungeduldige, leidlich disziplinierte Geschäftsleute mit weißen Knöpfen in den Ohren warteten da, lässigere Mittzwanziger mit überdimensionierten, bunt gemusterten Kopfhörern, bei denen man jetzt schon wusste, dass diese Mode in späteren Jahrzehntrückblicken belächelt werden würde, wippten lässig im Takt ihrer Musik. Vor den Zeitungsregalen überbrückten dicht gedrängt Leute die Zeit bis zu ihrer Abfahrt, indem sie wie selbstverständlich Hochglanzmagazine anlasen, die sie später sowieso nicht kaufen würden. Ein sichtlich schlecht gelaunter Mitarbeiter schien eigens dafür abgestellt, die Kunden daran zu erinnern, dass man in eine Bratwurst ja auch nicht einfach so zum Test hineinbeißen konnte; jedenfalls wiederholte er das immer wieder und lief von einem Regal zum nächsten, um die wogende Menge mit der Autorität eines müden Bundeswehr-Ausbilders zu maßregeln. Die vergebene Liebesmüh musste ihm dabei stets schmerzhaft bewusst sein, denn sobald der eine von ihm aufgeschreckte Leser das Magazin seines flüchtigen Interesses ins Fach zurückgestellt und den Ausgang angesteuert hatte, war die Lücke auch schon durch den nächsten Passanten geschlossen. Der ideale Ort für eine Übergabe, dachte Paul und stellte sich geduldig in die Schlange.
Es ging schneller, als er dachte. Der Kollege an der Kasse, dessen Arbeitsplatz etwas erhöht war, arbeitete die Kunden im Akkord ab. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck seines Arbeitgebers und hatte bereits die nächste Süddeutsche , TAZ oder Bild eingebongt, während er das vorherige Wechselgeld herausgab. Als er an der Reihe war, griff Paul nach der Zeit , die ganz vorne auf dem Tresen lag. «Guten Tag», sagte er.
«Einmal die Zeit ?», fragte der Mann, der etwa Mitte vierzig war, vorstehende und herausragend voluminöse Vorderzähne sein Eigen nannte und mit buschigem Schnurrbart das schütter gewordene Haupthaar zu kaschieren versuchte.
«Genau», bestätigte Paul und fragte sich, ob die Zähne aufgeklebt waren. «Kann man gar nicht genug von haben.»
«Ich kenne alle Zeit -Witze», sagte der Mann trocken, während er den Preis eingab. «Vier Euro zwanzig, bitte.»
Paul kramte in seiner Hosentasche umständlich nach Geld. «Eine Frage noch, ganz kurz», sagte er, während die Schlange hinter ihm größer wurde.
«Ja?» Der Verkäufer gab sich irritiert, er drohte aus seinem Arbeitsrhythmus zu geraten.
«Wie heißen Sie?», fragte Paul.
«Roger. Roger Wachulik. Wollen Sie sich beschweren?»
Roger Rabbit, dachte Paul mit Blick auf die Vorderzähne und schüttelte den Kopf. «Im Gegenteil.» Er lächelte. «Eine Bitte habe ich, Herr Wachulik. Morgen kommt ein Freund von mir vorbei und würde gerne einen Schlüssel für mich hinterlegen. Geht das?»
«Einen Schlüssel?»
«Einen Schlüssel!»
«Hier?»
«Jawohl!»
«Geht nicht», sagte der Verkäufer, hielt das Thema damit für beendet und wartete auf sein Zeitungsgeld. Paul zählte mühsam 20- und 50-Cent-Stücke ab.
«Das wäre aber sehr wichtig», sagte er eindringlich.
«Geht trotzdem nicht.» Roger Rabbit gab sich so unbeteiligt wie ein sattes Schaf auf der Wiese.
«Aber vorwärts geht das doch langsam mal hier, oder was?», rief ein mit seiner Wirtschaftswoche winkender Anzugträger, der an vierter Stelle nach Paul dran war und vielleicht einen Zug zu bekommen hatte. Die mit Bluthochdruck kämpfende Schlange in Pauls Rücken ächzte und stöhnte.
Paul zog einen Schein aus seiner Hosentasche. «Zwanzig Euro für Sie»,
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