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Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben

Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben

Titel: Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wiechmann
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Obwohl die meisten Leute auf den Bildern lachten. Danach war mir beim Gedanken an die Tour längst nicht mehr zumute. Es ist ja nicht so, dass ich Höhenangst hätte. Aber Angst, von so weit oben runterzufallen, die habe ich schon. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich als Sechsjähriger mit einem Freund aufs Dach unseres Wohnhauses in Berlin geklettert war. Ein Flachdach. Bis an den Rand waren wir gegangen und hatten hinuntergeschaut. Damals haben wir das einfach so gemacht. Ohne uns etwas dabei zu denken. Wenn ich mir jetzt, mit 34, die Szene wieder vor Augen rief, wurde mir ganz anders. Was damals alles hätte passieren können. Bei dem Gedanken daran wurde mir schlecht. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht mehr mich, sondern Oskar an meiner Stelle sah, wenn ich an diese Kindheitserlebnisse zurückdachte.
    »Gescheit kraxeln gehen«, hatte Max gesagt. Der hatte gut reden. Ein Mensch, der bereit war, in einem winzigen Zelt in den Bergen zu schlafen, war in meinen Augen verrückt. Dabei hatte Max doch drei reizende Kinder. Und eine nette Frau. Für die lohnte es sich doch zu leben. Ich wollte das auf jeden Fall tun. Leben! Also nicht für seine Frau und seine Kinder. Sondern für Francesca und Oskar.
    Noch zwei Monate. Wenn man Berichte über dem Tode geweihte Menschen liest, heißt es immer, dass diese ihre letzten Tage umso intensiver leben und dass sie, getragen von einer Welle der Euphorie, die ihnen verbliebene Zeit bis zum Letzten auskosten. Ich hatte leider nur Schiss. Sehr intensiv zwar, aber von Euphorie war weit und breit keine Spur. Um mir wenigstens eine Restchance aufs Überleben zu bewahren, beschloss ich, mich einigermaßen in Form zu bringen. Also tat ich das, was jeden Tag tausende Münchner tun, um in Form zu kommen oder zu bleiben. Ich ging joggen. Die Wahrscheinlichkeit, in München bei einem halbstündigen Spaziergang einem Läufer zu begegnen, liegt bei neunzig Prozent. Sie rennen immer und überall. Am Silvesterabend. Wenn es regnet. Wenn es schneit. Die Münchner rennen sogar auf Friedhöfen. Oder den Berg im Olympiapark hoch. Als ob es noch nicht anstrengend genug wäre, einfach nur geradeaus zu laufen. Am liebsten aber laufen die Münchner durch den Englischen Garten. Oder an der Isar entlang. Dorthin wollte auch ich. Die Isar lag nur fünf Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Und auf der rechten Seite stadtauswärts zog sich ein schöner Schotterweg den Fluss entlang. Als ich nach einer Stunde wiederkam, war ich fix und alle. Auf der Strecke hatten sich dramatische Szenen abgespielt.
    »Ich bin von Frauen überholt worden«, schnaufte ich Francesca entgegen.
    »Was für Frauen?«, fragte sie amüsiert.
    »Sehr, sehr schnelle Frauen! Es war furchtbar.«
    Ich hatte mir eine Strecke von sieben Kilometern vorgenommen. Schön ausgemessen mit Google Maps. Das bedeutete, dass ich vom Maximilianeum bis zum Freisinger Wehr laufen musste. Hin und zurück. Ich fand sieben Kilometer ambitioniert, aber nicht übertrieben. Nach zwei Kilometern, ich war bereits seit einem Kilometer bereit umzukehren, passierte es. Eine junge Frau in knappen weißen Shorts und einem ärmellosen hellblauen Top federte lockeren Schrittes an mir vorbei. Komisch, bei ihr sah das mit dem Joggen sehr viel leichter aus, als es sich für mich anfühlte. Verzweifelt versuchte ich, das Tempo anzuziehen und Schritt zu halten. Es muss ausgesehen haben, als ob eine Gazelle und ein Elefant um die Wette laufen. Nach dreihundert Metern gab ich auf und hatte hoffnungslos überzogen. Ich hätte mein eigenes Tempo weiterlaufen sollen. Selbst meine fünfminütige Verschnaufpause am Wehr nutzte nichts. Die dreieinhalb Kilometer zurück waren eine einzige Demütigung. Manch Fünfzig- und Sechzigjähriger sah frischer aus als ich. Überhaupt war ich ein Exot auf der Strecke in meinen Baumwollhosen und einem einfachen T-Shirt, das durchgeschwitzt an meinem Körper klebte. Loden, Dirndl, Lederhosen – alles schön und gut, aber die moderne bayerische Tracht heißt Goretex. Die Mehrzahl der Läufer, die mir auf der Strecke begegneten, war von Kopf bis Fuß perfekt mit bunter Funktionskleidung ausgerüstet. Doch für mich spielte das keine Rolle. Ein Hightech-Shirt hätte mich auch nicht schneller gemacht. Ein anderes Phänomen, das ich auf der Strecke erlebt hatte, beschäftigte mich ohnehin viel mehr. Und Francesca auch, wie sich bald herausstellte.
    »Nicht nur, dass mich Frauen überholt hatten …«, erzählte ich Francesca weiter.

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