Schleich di!: ...oder Wie ich lernte, die Bayern zu lieben
andres.«
»Wie viel Höhenmeter müssen wir denn morgen machen?« Ich hatte auf dem Watzmannhaus mitbekommen, dass die Diskussion um die bereits zurückgelegten und noch zu laufenden Höhenmeter für einige ein kleiner Fetisch war. Akribisch wurde analysiert, wie viele Meter es im Anstieg und wie viele es im Abstieg waren. Je mehr, desto besser, desto größer wurde das Leuchten in den Augen der Leistungswanderer.
»Ja mei, des san so neunhundert im Anstieg«, schätzte Max.
»Und? … Ist das viel?«, fragte ich vorsichtig nach.
»Heut waren’s ungefähr tausend im Anstieg, das meiste davon bis zum Hocheck und dann noch die Passagen zwischen den beiden Spitzen, die’s hochging. Und dann ging’s zweitausend Höhenmeter steil bergab. Macht …?«
»Dreitausend Höhenmeter«, stellte ich erstaunt fest. »… Dann sollte das ja morgen ein Spaziergang werden.«
»Perfekt, um sich den Muskelkater aus den Beinen zu laufen«, fügte Max hinzu und hob sein Glas, um anzustoßen. In diesem Moment hörten wir ein lautes Fluchen: »Herrgottsakra, nie wieda! Des mach i nie wieda! So an Schoaß, dreckata!« Ein erschöpfter Wanderer, vollkommen verschwitzt, hatte die Hütte erreicht. Um seinen Kopf hatte er ein Tuch gebunden, wie ein Pirat. Verächtlich warf er seinen Rucksack auf den Boden und sich selbst in Gras. Die Leute auf den Bierbänken, die dem Schauspiel beiwohnten, schmunzelten. Ein heiteres Murmeln setzte ein. Nachdem der Mann auf der Wiese ein paarmal kräftig durchgeschnauft hatte, stand er wieder auf. Jetzt lachte auch er. Packte den Rucksack und verschwand mit einem zünftigen »Griaß eich!« in der Hütte. Nie wieder? Im Leben nicht. In einer Viertelstunde würde der Pirat wieder beieinander und bereit für die nächste Herausforderung sein. Was hatte Max doch über den Grant gesagt? In kleinen Prisen genossen wirkt er erfrischend und belebend. Ich war glücklich.
Eingepackt in dicke Fleecepullover, saßen wir beide nach dem Abendessen wieder draußen vor der Hütte und genossen die abendliche Stille. Es war bei Weitem nicht so kalt wie gestern, oben am Berg. Aus der Stube hörte man Lachen, das Klirren von Gläsern, die Kommentare der Kartenspieler beim Schafkopfen. Ich dachte, so hört sich Frieden an.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir in zwei Tagen wieder in München sind«, meinte ich. Das hier draußen war eine ganz andere Welt.
»Ja, is schon schee herdroben. Ich bin trotzdem froh, in der Stadt zu leben. Zu viel heile Welt ist nicht gesund.«
Ich war überrascht. »Wie meinst du das denn?«
»Ich erzähl dir jetzt mal eine Geschichte. Die Geschichte von Maria. Maria war meine erste große Liebe.« Jetzt war ich nicht nur überrascht, sondern erschrocken. »Ich glaub, ich war da nicht allein bei uns im Dorf. Die Maria war einfach ein besonderes Mädchen. Schwer zu sagen, warum, aber wahrscheinlich, weil sie immer zu lächeln schien. Wenn sie durchs Dorf ging, dann war’s, als wär die Sonne noch mal aufgegangen. Jeder der jungen Burschen hat damals versucht, mit ihr anzubandeln. Obwohl alle Angst vor ihrem Vater hatten. Der alte Wenzl war ein Tier. Der hat jedem, der die Maria auch nur zu lang angeschaut hat, mit Schlägen gedroht. Die Maria und er lebten allein. Die Mutter war bei der Geburt gestorben. Aber die Maria hätte sich auch ohne ihren Vater mit keinem eingelassen. Ich weiß von zweien, die sich getraut hatten, ihr zu sagen, dass sie sie lieben täten. Aber nix war’s. Dennoch hat’s die Maria geschafft, keinen vor den Kopf zu stoßen. Niemand war ihr bös.«
»Und was war mit dir?«
»Mei, ich war halt zwei Jahre jünger als sie. Da konnte ich außer anschmachten nix erwarten.«
»Und was ist dann passiert?«
»Dann, mit siebzehn, war Maria eines Tages verschwunden. Einfach so. Von einem Tag auf den anderen weg. Keiner wusste, warum. Ihr Vater betrank sich nach ihrem Verschwinden jeden Tag. So lange, bis wahrscheinlich auch er nicht mehr wusste, warum seine Tochter das Dorf verlassen hatte. Dabei war er der Einzige, der es uns hätte erzählen können. Das Schwein. Die Maria ist nie wieder zurückgekehrt.« Max sprach ohne Wut. In seiner Stimme lag Bitterkeit.
»Wie hast du’s rausgefunden?«
»Ich hab Maria wiedergesehen. In Hamburg. Auswärtspiel der Bayern. Natürlich wollten wir auch auf die Reeperbahn. Und da hab ich sie gesehen. Komisch. Sie hätte jeden haben können. Und jetzt stand sie da, wo jeder sie haben konnte. Er musste nur dafür bezahlen. Wir
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