Schleier der Traeume
Fahrstuhl.
»Das ist mein Haus«, erklärte sie, während der Aufzug ins oberste Stockwerk fuhr. »Hier bin ich aufgewachsen.«
»Sie sind Gerald Kings Tochter?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Eltern. Ich sage nur Vater zu ihm, weil er mir befohlen hat, das vor anderen zu tun. Wenn wir allein sind, nenne ich ihn Gerald – so wie sie es tat.« Sie beobachtete das Aufleuchten der Stockwerkzahlen: eins, zwei, drei, vier. »Hoffentlich ist er zu Hause. Manchmal geht Vater auf Geschäftsreise.«
»Taire, Sie müssen das nicht tun.«
Sie blickte ihn finster an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, das ist mein Haus. Ich wohne hier. Ich habe keinen anderen Ort. Vater ist alles, was ich habe.«
»Warum haben Sie dann auf der Straße gelebt?«, fragte er, während sie ihn in den Korridor zu treten zwang.
»Ich habe einen Fehler gemacht, und Vater wurde wütend und sagte, ich müsse gehen. Dann hab ich einen seiner Männer verletzt und seinen Wagen zerstört. Zurückkommen konnte ich erst, nachdem ich alles in Ordnung gebracht hatte.« Sie führte Sean zu den Wohnräumen ihres Vaters. »Er hat sich immer bloß gewünscht, Alana wiederzusehen.«
»Ist Rowan seine Tochter? Ist Rowan in Wirklichkeit Alana King?«
Sie sah ihn überrascht an. »Natürlich nicht. Rowan ist wie ich. Sie war nur die Erste. Als sie ging, hat Vater mich an ihre Stelle geholt.«
Taire blieb vor der Tür zu den Wohnräumen ihres Vaters stehen. Nie hatte sie seine Zimmer ohne Eskorte betreten und fühlte sich erstmals seit dem Weggang von zu Hause unsicher.
Sie kaute auf der Unterlippe. »Vielleicht sollte ich klopfen?«
»Lassen Sie mich reingehen«, schlug Sean vor.
»Das wäre dumm. Vater hat jede Menge Schusswaffen. Er würde Sie einfach abknallen.« Sie klopfte höflich, öffnete die Tür, schlich hinein und zog Sean hinter sich her.
Als die Krankenschwester, die aus Vaters Schlafzimmer kam, Taire sah, ließ sie ihr Tablett fallen. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier reingekommen?«
Auch Taire war verwirrt. »Was tun Sie im Schlafzimmer meines Vaters?«
»Mr King ist sehr krank«, erwiderte die Schwester. »Es tut mir leid, aber er darf jetzt keinen Besuch empfangen. Sie müssen wieder gehen.«
»Rowan?«, rief Sean.
»Hier«, rief Rowan aus dem Schlafzimmer zurück.
»Hören Sie auf zu schreien.« Taire öffnete mit ihrer Gedankenmacht den Wandschrank am anderen Ende des Zimmers und zwang die Schwester, hineinzugehen. Dann ließ sie die Tür zuschlagen und das Schloss einrasten, damit die gegen den Schrank trommelnde Frau sich nicht befreien konnte. »Ich kann nicht glauben, dass Vater krank ist.« Sie zwang Sean, ihr ins Schlafzimmer zu folgen.
Rowan saß am Bett. Vater lag ausgezehrt und aschfahl darin und regte sich nicht. Taire vergaß alles ringsum, eilte zu ihm und ergriff seine schwache Hand. Seit ihrem Weglaufen schien er um fünfzig Jahre gealtert zu sein.
»Vater? Was hast du?« Als er nicht antwortete, starrte sie Rowan an. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Er war schon so, als ich kam.« Sie warf Sean einen raschen Blick zu und zog die Kanüle heraus, die an ihrem Innenarm befestigt war.
Gerald King öffnete die Augen und sah Taire an. »Warum bist du hier?«
»Ich habe Alana für dich gefunden, Vater.« Sie warf Rowan einen Blick zu. »Sie müssen jetzt seine Hand nehmen und sich für ihn verwandeln. Na los.«
»Ich bin nicht Alana, Kind – so wenig wie du. Meine Mutter ist schon lange tot.« Sie stand auf und wandte sich Sean zu. »Wir müssen hier raus.«
Plötzlich ergriff Gerald Taires Arm und zog sie aufs Bett. »Du lässt mich hier nicht sterben«, sagte er zu Rowan. »Gib mir die Transfusion.«
»Mein Blut kann dich nicht retten, alter Mann«, erklärte Rowan. »Nichts kann dich retten.«
»Vater, bitte nicht böse werden«, flehte Taire und wollte sich aus seinem knochigen Griff befreien.
»Schnauze«, fuhr er sie an. Kaum wehrte sie sich nicht länger, wandte er Rowan den Kopf zu. »Meine Ärzte sehen das anders.« Er griff unter sein Federbett und zog eine Pistole hervor. Taire bekam große Augen, als er sie ihr an die Schläfe setzte. »Schieb dir die Nadel wieder in den Arm und beginne mit der Transfusion, oder ich schieße ihr in den Kopf.«
Taire wurde reglos. »Du willst mir doch nicht wehtun. Du liebst mich. Ich bin deine Prinzessin. Du hast gesagt, wenn ich alt genug bin, heiratest du mich. Wie die erste Alana.«
King spuckte sie an. »Du hast keine Ähnlichkeit mit Alana. Warum
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