Schleier der Traeume
Ihr war klar, dass Gerald Kings ausgefeiltes Sicherheitssystem sie in diesem Moment heranzoomte, um ihre Hände, ihr Gesicht und ihre Kleidung zu fotografieren.
Manches änderte sich nie.
Ein dünner, älterer Mann in dunklem Anzug öffnete kurz darauf die Tür. »Willkommen, Miss.« Er trat einen Schritt zurück.
Sie schritt an ihm vorbei in den langen Flur. Dort war es wärmer, roch aber steril, als wäre sie in das Nichts getreten. Schwebstofffilter allerorten, vermutete sie – und dazu Elektrofilter und weiß Gott was noch. Ein Schmutzfleck würde hier nicht lange überleben.
»Darf ich Ihre Jacke nehmen?«, fragte der Butler.
»Nein.«
»Wie Sie wünschen. Mr King ist im Schlafzimmer.« Er wies den rechten Flur hinunter. Als sie stehen blieb, setzte er hinzu: »Er erwartet Sie, Miss.«
»Danke.« Sie schob die Hände in die Taschen und schritt den Korridor entlang, der vor den Stahltüren eines Aufzugs endete. Der Fahrstuhl brachte sie in die vierte und höchste Etage, wo sie in eines der schönsten Zimmer Manhattans trat.
Die Einrichtung stammte aus der Zeit um 1900, aber die Kunstwerke an den mit poliertem Kirschholz getäfelten Wänden waren weit älter. Sie betrachtete ein grüblerisches Meisterporträt von Renoir zwischen einer komplexen Skizze von Leonardo da Vinci und einer heiteren Madonna von Raffael und ging dann über unbezahlbare syrische Teppiche zu dem Torbogen, der ins Nachbarzimmer führte.
Verglichen mit den kostspieligen und beeindruckenden Dingen, die im Empfangsraum ausgestellt waren, wirkte das Schlafzimmer beinahe schmucklos: Ein schlichtes Himmelbett stand einer komplizierten, ja, ausufernden Computeranlage gegenüber. Es gab keine Stühle, Tische oder sonstigen Möbel, sondern nur verschiedene tragbare medizinische Geräte, die das Bett rechts wie links umgaben.
Der alte Mann lag unter schlichten weißen Laken, und der fast kahle Kopf und das schmale Gesicht waren aschfahl. Einige weiße Haarbüschel sprossen ihm oberhalb der Ohren, und die weißen Borsten eines ungleichmäßigen Barts sollten die hohlen Wangen kaschieren. Obwohl er mühsam und kratzend atmete, bewegte seine Brust sich kaum. Nur seine Augen – kleine Kaffeebohnen in blutunterlaufenem Weiß – wiesen Anzeichen von Leben auf.
Rowan trat ans Fußende des Betts, berührte es aber nicht. »Ich bin gekommen, alter Mann.«
»In der Tat.« Seine Mundwinkel gruben sich in seine Wangen. »Ich hätte nie gedacht, dich wiederzusehen.«
»Und ich hatte gedacht, du wärst inzwischen gestorben.« Sie betrachtete die Geräte, die ihn am Leben hielten. »Na, vielleicht schaffst du das noch, wenn ich zum Abendessen bleibe.«
»Tut mir leid, dich enttäuscht zu haben.« Er hob mühsam die Hand und wies auf den Herzmonitor. »Wie du richtig vermutest, bleibt mir nicht mehr viel Zeit – ein bösartiger Hirntumor, falls es dich interessiert.«
»Tut es nicht.« Sie schob die Hände in die Taschen. »Was willst du?«
»Meine Liebe.« Sein Lächeln war grausig – das Grinsen eines Totenschädels. »Was habe ich immer gewollt? Nur deine Zufriedenheit und meine.«
Sie zog das Foto heraus, das sie aus Seans Wohnung mitgenommen hatte. »Du hast keine Zeit damit verschwendet, nach mir zu suchen oder mich zu ersetzen.«
»Niemand könnte deinen Platz in meinem Herzen je einnehmen«, gab er zurück. »Das weißt du.«
Nichts, was er sagte, würde sie rühren. »Ich bin mir sicher, dass du meine telefonische Nachricht bekommen hast, aber falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe, wiederhole ich: Du lässt Sean Meriden ungeschoren, und ich tue, was du willst.«
»Ein ausgesprochen großzügiges Angebot.« Er musterte ihr Gesicht. »Denn immerhin weißt du nicht, was ich will.«
»Das weiß ich gut, alter Mann.« Sie würde sich deshalb sicher noch übergeben, wenn er erst mal in der Grube wäre. »Aber ich tue es erst, wenn ich mich davon überzeugt habe, dass Sean nicht mehr in Gefahr ist.«
Der Alte schlug das Bett auf und erhob sich. Das schien fast zu anstrengend für ihn zu sein, und er wurde noch bleicher, als er die Füße auf den Boden stellte. Er blieb ein wenig sitzen, stand dann auf und hielt sich schwer atmend am Bettpfosten fest.
Rowan blieb reglos stehen. Falls er tot auf sie kippte, ließe sie von unten Champagner kommen.
»Wie du richtig vermutet hast, suche ich seit Jahren nicht mehr nach dir«, sagte Gerald und schlurfte dabei ums Fußende des Bettes herum. »Ich hatte mich in die Situation gefügt,
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