Schleier der Traeume
Speisen, die nicht gegessen worden waren, und sogar der Gestank der Säcke weiter unten schreckte die Stadtstreicher nicht ab. Egal, wie hungrig sie war: Taire würde sich hüten, Müllcontainer zu durchwühlen. Falls niemand von der Küchencrew sie erwischte, würden es die Ratten tun, die bereits an den Säcken nagten.
Wieder kam Rowan mit Abfällen in den Hof, und diesmal musste Taire die Arme um den Leib schlingen, damit ihr Magen nicht so laut knurrte. Hunger zu haben, war wirklich übel – und sie war immer hungrig –, aber dazusitzen und die herrlichen Düfte einzuatmen, die mit Rowan aus der Küche drangen, machte es noch schlimmer.
Dabei war Taire selbst schuld; sie hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, ins Freie zu schlüpfen und Lebensmittel für ihr Versteck zu besorgen. Geld für einen Kaffee hatte sie, und die Verkäuferin des Donutladens, in den sie meist ging, steckte ihr fast immer einen Muffin oder ein anderes Gebäck zu. Doch Taire hatte nachgedacht, geträumt und sich Sorgen gemacht und schließlich zu planen begonnen, war den Nachmittag über in ihrem Zimmer auf und ab gegangen und hatte eine Idee nach der anderen verworfen:
Ich könnte ihr einen Brief schreiben
(aber sie hatte nur Hotelpapier).
Ich könnte ihr durch ein Kind eine Nachricht bringen lassen
(und dieses Kind konnte zur Polizei gehen).
Ich könnte in ihre Wohnung eindringen
(aber sie wusste nicht, wie man Schlösser knackt, und rohe Gewalt anzuwenden, würde nach Einbruch aussehen).
So viele Überlegungen, aber noch immer kein Plan. Sie war zu ängstlich, um etwas zu unternehmen, und das würde sich auch nicht ändern, solange sie nicht überzeugt wäre, nicht erwischt zu werden.
Taire wusste nicht, was Rowan tun konnte oder ihr womöglich antat, nachdem sie es ihr gesagt hätte. Rowan war ganz sicher stärker; nicht mal bei dem Motorradunfall hatte sie sich ernstlich verletzt. Und falls sie so ängstlich war wie Taire? Gut möglich, dass sie Taire dann angriff.
Ihr war etwas schwindlig, als sie sich auf die Beine stemmte. In ihrem Magen wütete der Hunger schlimmer als je; wenn sie nicht aufpasste, wurde sie vielleicht ohnmächtig, und dann würde man sie finden. Und die Polizei oder einen Rettungswagen rufen. Und sie ins Krankenhaus oder in ein Obdachlosenheim bringen. Und herausfinden, wer sie war. Und dann würden sie sie töten.
Oder schlimmer noch: Sie würden sie nicht töten.
Die Hintertür ging auf, doch erst als Rowan sich ihr zuwandte und sie direkt ansah, merkte Taire, dass sie im Licht stand. Sofort stolperte sie ins Dunkel zurück, doch es war zu spät.
»He.« Rowan setzte die Müllsäcke ab und spähte in ihre Richtung. »Wer da?«
Im Geiste rannte Taire davon, doch dafür zitterten ihre Beine zu sehr. Sie kauerte sich hin, schlang die Arme um die Knie, hielt den Atem an und hoffte, das andere Mädchen würde sie nur für eine Einbildung halten.
»He, du.« Rowan kam ein paar Schritte auf sie zu. »Brauchst du Hilfe?«
Taire spürte, wie sich der Schiefer unter ihren Fersen bewegte, und presste die Lippen zusammen, um nicht zu schreien.
Ja! Hilf mir! Rette mich! Nein! Bleib weg!
»Warte kurz, ja?« Rowan ging in die Küche zurück.
Das war die Gelegenheit, abzuhauen. Taire schaffte es bis zur nächsten Tür, hörte dann aber Schritte hinter sich und sah sich um.
Rowan blieb zwei Meter entfernt stehen. »Keine Angst, Mädchen.« In den Händen hielt sie einen großen, schwarzen Plastikbehälter mit durchsichtigem Deckel. »Hast du Hunger?«
Taire roch es jetzt. Brathuhn, Kräuter, Kartoffeln, Zwiebeln. Dazu etwas Exotischeres und Pikanteres. Sie drehte sich um und starrte auf den Behälter voller Lebensmittel und auf die rot-silberne Dose.
Eine Cola. Sie hatte ihr Essen und eine Cola gebracht. Kostenlos.
Rowan kam nicht näher, sondern streckte ihr Behälter und Dose möglichst weit entgegen. »Für dich.« Als Taire sich nicht rührte, bückte sie sich, stellte beides vorsichtig auf den Boden, richtete sich auf und entfernte sich wieder. »Nimm ruhig.«
Taire schob sich vorwärts und behielt dabei Rowan und das Essen die ganze Zeit im Blick. Vor lauter Vorfreude wurde ihr übel, ihr Magen zog sich zusammen, die Brust verengte sich, und das Atmen machte ihr Mühe. Zugleich ließ der Duft des Essens ihr das Wasser so im Munde zusammenlaufen, dass sie praktisch sabberte. Seit Wochen hatte sie nichts Richtiges gegessen.
Großer Gott – seit ihrer Flucht von zu Hause hatte sie keine Cola mehr
Weitere Kostenlose Bücher