Schleier des Herzens (German Edition)
begangen. Wenn ihm das nachgewiesen wird, ist es aus für ihn. Deshalb wird auch keiner der Beteiligten irgendwie in der Sache aussagen. Das ist ja das Teuflische an der ganzen Geschichte: Zarah macht ihre Opfer zu Mittätern. Blodwen und Mustafa, Kahm und alle anderen haben selbst das größte Interesse daran, dass nichts herauskommt.«
»Trotzdem. Der Emir muss davon erfahren. Verdammt noch mal, er ist der Emir! Er kann Leute begnadigen, er kann über Verfehlungen hinweg sehen. Er hat die absolute Macht ...«
Und Zarah hatte Macht über ihn ... Beatriz brach ab, als sie an Amirs Gesicht bei ihrer letzten Begegnung dachte. Eine Frau, die Männer willenlos machte. Gequälte Züge, gebrochene Versprechungen ... Eine dunkle Macht hinter dem Thron von Granada. Beatriz zerriss Ayeshas Schleier in unruhigen Händen.
Ayesha sah sie herausfordernd an.
»Dann bitte ihn doch!«, sagte sie. »Wenn es jemand kann, wenn jemand über Zarahs Macht triumphieren kann, dann bist du es. Aber in dem Fall musst du aufhören, mit ihm zu spielen. Du wirst all deine Reize – all deine Liebe ! – brauchen, um Amir aus ihrem Einfluss zu lösen. Du musst das warme Leuchten des Paradieses gegen die lodernde Glut der Hölle setzen. Wagst du es, Beatriz? Wagst du es?«
Beatriz schluckte. Aber dann traf sie ihre Entscheidung.
»Léon«, sagte sie leise. »Du wirst dich jetzt reinigen. Halte dich bis heute Abend versteckt, hier oder anderswo. Und heute Abend gehst du zu der Pforte zwischen dem Harem und den Privatgemächern des Herrn. Du sagst dem Eunuchen dort, Hassan habe den Wachdienst geändert, und löst ihn ab. Denk dir einen Grund aus oder lass ihn offen, das ist mir egal. Aber ich möchte dich an der Pforte treffen, zu der Stunde, in der die Sonne untergeht. Du wirst mich hinauslassen in die Gärten meines Herrn.«
Zwölftes Kapitel
Amir verfluchte seine Schwäche. Warum fürchtete er sich so vor dieser Begegnung? Warum kam er der ›Einladung‹ überhaupt nach? Er war der Emir – wenn es ihm gefiel, konnte er Regierungsgeschäfte vorschieben, er konnte ausreiten, ach, er konnte sogar ganz offen eine Konkubine zu sich bestellen und Zarah zeigen, dass er jede andere Gesellschaft der ihren vorzog. Mit verzweifeltem Sehnen dachte er an Beatriz’ Körper in seinen Armen. Gestern war sie so nahe daran gewesen, seinem Flehen nachzugeben. Noch einmal beschwor er die verzauberte Stunde zwischen Nacht und Tag herauf, spürte ihre zarte Hand in der seinen und ihre Lippen, fühlte ihre vorsichtig tastende Zunge in seinem Mund. Ihr Haar war offen gewesen, ihr Gesicht ungeschminkt und das Geschenk ihrer Hingabe ohne Arg.
Was quälte sie nur? Warum konnte sie nicht endlich nachgeben? Ob sie diesen Diego de Ciento wirklich so geliebt hatte? Oder ob Treue einfach mehr als ein Wort für sie war?
Amir kleidete sich sorgfältig an. Feste Brokatgewänder. Nicht wie beim letzten Mal ... Er musste über sich selbst lachen. Am besten zöge er eine Rüstung über, bevor er zu Zarah ging!
Wenn er es nur so leicht hätte nehmen können, wenn er dann vor ihr stand! Aber sobald sie Besitz von ihm ergriff, würde er ihren Düften und Zauberkünsten wieder erliegen. Amir wusste und fürchtete es, aber er sah keinen Ausweg.
Schließlich betrat der Emir den Dachgarten und warf einen letzten Blick auf die Stadt im Zwielicht. Die Sonne versank glühend hinter den Bergen und tauchte Granada in rötliche Schatten. Aber hier, weit über der Stadt, warnoch ein Rest von Sonnenlicht vorhanden. Amir meinte, eine schlanke Gestalt darin erscheinen zu sehen. Rotgoldenes Haar, als hätte sie die Sonne eingefangen, ein weißes Kleid, weiche Rundungen, die sich im letzten Licht darunter abzeichneten ...
Er musste träumen. Es war die Stunde, in der Wirklichkeit und Phantasie verschwammen.
»Mein Herr?«
Eine zarte, melodische Stimme. Er hatte fast vergessen, wie sanft und doch volltönend Beatriz klingen konnte, wenn sie nicht gerade mit ihm zankte.
»Geht meine Morgensonne mir am Abend auf?«, fragte er leise. In seinen Augen stand seine ganze Sehnsucht.
Das Mädchen trat auf ihn zu. »Mein Herr, ist die Tageszeit nicht nur ein Trugbild? Verfliegen die Stunden nicht schneller, wenn die Liebe uns umfangen hält, während sie sich endlos dehnen, falls Sehnsucht uns wach hält in heißen Nächten?«
Amir vergaß die Verabredung mit Zarah. Er vergaß seine Ängste, Sorgen, dunklen Befürchtungen. Hier war Beatriz. Sie war gekommen, um ihn zu lieben.
Sehr langsam
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