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Schloss aus Glas

Schloss aus Glas

Titel: Schloss aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanette Walls
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wie die Farbe des Ozeans, der an die kalifornischen Strände brandete. »Da möchte ich leben, wenn ich mal groß bin«, sagte Maureen, wie immer, wenn sie die Geschichten hörte.
    Sosehr sie sich auch nach Kalifornien sehnte, diesem magischen Land voller Licht und Wärme, in Welch fühlte sie sich anscheinend wohler als wir übrigen Kinder. Sie war ein Bilderbuchmädchen mit ihren langen blonden Haaren und den erstaunlich blauen Augen. Sie verbrachte so viel Zeit bei ihren Freundinnen zu Hause, dass sie gar nicht mehr nichtig zu uns zu gehören schien.
    Die Eltern von vielen ihrer Freundinnen waren Pfingstler und hielten Mom und Dad für absolut unverantwortlich, sodass sie sich berufen fühlten, Maureens Seele zu retten. Sie behandelten Maureen wie eine Ersatztochter und nahmen sie mit zu Erweckungsversammlungen und Gottesdiensten drüben in Jolo, wo sie mit Schlangen beteten.
    Unter dem Einfluss der Pfingstler entwickelte Maureen eine ausgeprägte religiöse Ader. Sie wurde mehr als ein Mal getauft und verkündigte jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, sie sei wiedergeboren. Einmal war sie felsenfest davon überzeugt, der Teufel hätte sie in Gestalt einer Natter, die ihren Schwanz im Mund hatte, den Berg hinunter verfolgt und gezischt, er würde ihre Seele holen. Brian sagte zu Mom, wir müssten Maureen von diesen durchgedrehten Pfingstlern fern halten, aber Mom meinte, jeder würde seinen Glauben anders leben und wir müssten die religiösen Praktiken anderer respektieren, da schließlich jeder Mensch seinen Weg in den Himmel selbst finden müsse.
    Mom konnte so weise sein wie ein Philosoph, aber ihre Stimmungen gingen mir langsam auf die Nerven. Manchmal war sie tagelang glücklich und sagte, sie habe beschlossen, nur noch positiv zu denken, denn wenn man positiv denkt, passieren einem positive Dinge. Aber dann wichen die positiven Gedanken den negativen, und diese negativen Gedanken machten sich in ihrem Kopf breit wie eine große Schar schwarzer Krähen, die plötzlich eine ganze Landschaft in Beschlag nehmen, indem sie sich scharenweise in Bäumen und auf Gartenzäunen und Rasenflächen niederlassen und dich mit bedrohlichem Schweigen anstarren. Wenn das passierte, war Mom morgens nicht zum Aufstehen zu bewegen, selbst wenn Lucy Jo kam, um sie zur Schule mitzunehmen, und ungeduldig auf der Straße hupte.
    Eines Morgens gegen Ende des Schuljahres hatte Mom einen totalen Zusammenbruch. Sie sollte Beurteilungen für ihre Schüler schreiben, aber stattdessen hatte sie jede freie Minute gemalt, und jetzt war der Abgabetermin da, und sie hatte noch keine einzige Beurteilung fertig. Die Finanzierung für ihre Förderklasse würde eingestellt werden, und die Schulleiterin würde entweder wütend reagieren oder einfach völlig angewidert sein, und Mom brachte es nicht fertig, der Frau gegenüberzutreten. Lucy Jo, die in ihrem Dart auf Mom gewartet hatte, fuhr ohne sie davon, und Mom lag in Decken eingepackt auf der Schlafcouch und schluchzte, wie sehr sie ihr Leben hasste.
    Dad war nicht da, ebenso wenig Maureen. Brian äffte Mom nach, wie sie jammerte und schluchzte, aber als niemand lachte, nahm er seine Bücher und ging nach draußen. Lori setzte sich neben Mom aufs Bett und versuchte sie zu beruhigen. Ich blieb einfach mit verschränkten Armen in der Tür stehen und starrte sie an.
    Ich konnte es kaum glauben, dass die Frau da, die die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte, in Selbstmitleid ertrank und wie eine Fünfjährige heulte, meine Mutter war. Mom war achtunddreißig, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. In fünfundzwanzig Jahren, sagte ich mir, würde ich so alt sein wie sie jetzt. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Leben dann sein würde, aber als ich meine Schulsachen nahm und zur Tür hinausging, schwor ich mir, dass ich nie so leben würde wie Mom, dass ich mir niemals die Augen in einer ungeheizten Bruchbude in irgendeinem gottverlassenen Nest ausweinen würde.
    Ich ging die Little Hobart Street hinunter. In der Nacht hatte es geregnet, und das einzige Geräusch war das Gurgeln des Wassers, das durch die ausgewaschenen Rinnen am Hang hinabrann. Schlammiges Wasser floss in dünnen Bächen über die Straße, drang mir in die Schuhe und durchtränkte meine Socken. An meinem rechten Schuh hatte sich die Sohle gelöst, und es klatschte bei jedem Schritt.
    Lori holte mich ein, und wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. »Arme Mom«, sagte Lori schließlich. »Sie hat es ganz schön

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