Schloss aus Glas
abspeisen lassen.« Außerdem, so erklärte sie, wollte sie unbedingt weg von ihrer Mutter, die sie nicht mal die kleinste Entscheidung treffen ließ. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass euer Vater noch schlimmer sein würde.«
Nach der Heirat quittierte Dad den Dienst in der Air Force, weil er, wie er sagte, für seine Familie ein Vermögen machen wollte, und das war beim Militär nun mal nicht möglich. Wenige Monate später wurde Mom schwanger. Nachdem Lori das Licht der Welt erblickt hatte, war sie die ersten drei Jahre ihres Lebens stumm und kahlköpfig. Dann sprossen ihr plötzlich lockige Haare, rot wie eine blanke Kupfermünze, und sie plapperte ohne Unterlass. Aber es hörte sich an wie sinnloses Geschnatter, und alle hielten sie für etwas zurückgeblieben, bis auf Mom, die sie ausgezeichnet verstand und sagte, sie habe ein prima Vokabular.
Ein Jahr nach Loris Geburt bekamen Mom und Dad eine zweite Tochter, Mary Charlene, die pechschwarzes Haar und schokoladenbraune Augen hatte, genau wie Dad. Mary Charlene starb eines Nachts, als sie neun Monate alt war. Plötzlicher Kindstod. Zwei Jahre später wurde ich geboren. » Du solltest Mary Charlene ersetzen«, sagte Mom. Sie erzählte mir, dass sie noch eine zweite rothaarige Tochter bestellt hatte, damit Lori sich nicht so komisch vorkam. »Du warst so ein mageres Baby«, sagte Mom oft zu mir. »Das längste, knochigste Neugeborene, das die Schwestern je gesehen hatten.«
Brian kam, als ich eins war. Er war ein so genanntes Blue-baby, sagte Mom. Als er zur Welt kam, konnte er nicht atmen und hatte als Erstes einen Anfall. Immer wenn Mom die Geschichte erzählte, machte sie die Arme ganz steif, presste die Zähne aufeinander und riss die Augen weit auf, um zu zeigen, wie Brian bei seiner Geburt aussah. Mom sagte, als sie ihn so sah, hätte sie gedacht: »Ooh, der macht's auch nicht lange.« Aber Brian überlebte. Während seines ersten Lebensjahres hatte er öfter solche Anfälle, aber eines Tages hörten sie einfach auf. Er wurde ein zäher kleiner Kerl, der nie jammerte oder weinte, selbst als ich ihn einmal aus Versehen vom oberen Bett schubste und er sich die Nase brach.
Mom sagte immer, die Leute würden sich einfach zu viele Sorgen um ihre Kinder machen. In jungen Jahren zu leiden tut jedem gut, erklärte sie. Es stärkt den Körper und die Seele, und deshalb achtete sie nicht auf uns Kinder, wenn wir weinten. Weinende Kinder zu betütern führt höchstens dazu, dass sie noch weinerlicher werden, sagte sie zu uns. Das ist bloß positive Verstärkung eines negativen Verhaltens.
Mom schien nie unter Mary Charlenes Tod zu leiden. »Gott weiß, was er tut«, sagte sie. »Er hat mir perfekte Kinder
geschenkt, aber auch eins, das nicht so perfekt war, und deshalb hat er sich gesagt: > Hoppla, das da nehme ich lieber wieder zurück.<« Dad dagegen wollte nicht über Mary Charlene reden. Wenn ihr Name fiel, versteinerte sich seine Miene, und er ging aus dem Zimmer. Er war es gewesen, der sie tot in ihrem Bettchen gefunden hatte, und Mom konnte einfach nicht fassen, wie sehr ihn das mitgenommen hatte. »Als er sie fand, stand er da wie unter Schock oder so und wiegte ihren steifen kleinen Körper in den Armen«, sagte Mom, »und dann hat er geschrien wie ein verwundetes Tier. So ein schreckliches Geräusch hab ich noch nie gehört.«
Mom sagte, nach Mary Charlenes Tod war Dad nicht mehr der Alte. Er hatte düstere Stimmungen, blieb öfters bis spät nachts weg und kam dann betrunken nach Hause, und er verlor seine Jobs. Eines Tages, kurz nach Brians Geburt, waren wir ein bisschen knapp bei Kasse, und Dad verpfändete Moms großen Brillant-Ehering, den ihre Mutter bezahlt hatte, woraufhin Mom der Kragen platzte. Immer wenn Mom und Dad danach Streit hatten, fing Mom von dem Ring an, und Dad sagte, sie solle mit ihrem blöden Gejammer aufhören. Er versprach ihr einen neuen Ring, der noch toller wäre als der, den er versetzt hatte. Deshalb müssten wir unbedingt Gold finden. Damit Mom ihren neuen Ehering kriegte. Und damit wir das Schloss aus Glas bauen konnten.
Gefällt dir die herumzieherei?«, fragte Lori mich.
»Ja klar!«, sagte ich. »Dir nicht?«
»Doch«, sagte sie.
Es war später Nachmittag, und wir parkten vor einer Bar in der Wüste von Nevada. Sie hieß None Bar. Ich war vier, und Lori war sieben. Wir waren auf dem Weg nach Las Vegas. Dad wollte eine Weile sein Glück in den Kasinos versuchen, weil er meinte, dass es die einfachste Methode wäre,
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