Schloss aus Glas
»Kommt von meinem schlechten Zahnfleisch. Ich bewege den Kiefer, damit das Blut besser zirkuliert.«
Brian riss ihr die Decke weg. Auf der Matratze neben Mom lag ein Schokoriegel in Familiengröße mit abgezogenem Silberpapier. Sie hatte schon die Hälfte davon gegessen.
Mom fing an zu weinen. »Ich kann nichts dafür«, schluchzte sie. »Ich bin zuckersüchtig, genau wie euer Vater Alkoholiker ist.«
Sie bat uns, ihr zu verzeihen, so wie wir Dad seine Sauferei verziehen. Keiner von uns sagte etwas. Brian schnappte sich den Schokoriegel und teilte ihn in vier Stücke. Vor Moms Augen stopften wir sie gierig in uns hinein.
Der Winter in jenem Jahr kam mit Macht. Kurz nach Thanksgiving fiel der erste Schnee in dicken, nassen Flocken, so groß wie Schmetterlinge. Sie schwebten träge herab, doch nach ihnen kamen kleinere, trockenere Flocken, die über Tage nicht mehr aufhörten. Am Anfang mochte ich den Winter in Welch. Die Schneedecke verbarg den Ruß und ließ die ganze Stadt sauber und gemütlich wirken. Unser Haus sah fast so aus wie alle anderen auf der Little Hobart Street.
Es war so kalt, dass die jüngsten, zartesten Zweige in der frostigen Luft zerbrachen, und schon bald bekam ich die Kälte am eigenen Leib zu spüren. Ich hatte noch immer bloß den dünnen Wollmantel mit den fehlenden Knöpfen, den Mom mir im Secondhand-Laden in Phoenix gekauft hatte. Im Haus war mir fast genauso kalt wie draußen, weil wir keine Kohlen hatten, um den Ofen anzufeuern. Im Telefonbuch von Welch standen zweiundvierzig Kohlenhändler. Eine Tonne Kohle, mit der wir fast den ganzen Winter ausgekommen wären, kostete um die fünfzig Dollar - einschließlich Lieferung - oder gerade mal dreißig Dollar für die minderwertigere Qualität. Mom sagte, es tue ihr Leid, aber für Kohle sei einfach kein Geld da. Wir müssten uns etwas anderes einfallen lassen, um uns aufzuwärmen.
Wenn irgendwo Kohle geliefert wurde, fiel immer ein bisschen von den Lastwagen herunter, und Brian schlug vor, dass er und ich mit einem Eimer losziehen und alles einsammeln sollten, was wir finden konnten. Wir trotteten gerade die Little Hobart Street hinunter und sammelten Kohlestücke auf, als unsere Nachbarn, die Noes, mit ihrem Rambler-Kombi vorbeifuhren. Die Noe-Mädchen, Karen und Garol, saßen auf
den nach hinten gerichteten Notsitzen und schauten zum Heckfenster hinaus. »Wir stocken unsere Steinsammlung auf!«, rief ich.
Die Kohlestücke, die wir fanden, waren so klein, dass wir nach einer Stunde erst einen halben Eimer voll hatten, und um für einen Abend den Ofen zu befeuern, brauchten wir mindestens einen ganzen Eimer. Deshalb heizten wir meistens mit Holz und gingen nur gelegentlich auf Kohlesammeltour. Holz konnten wir uns genauso wenig leisten wie Kohle, und da Dad nicht da war, um einen Baum zu fällen und klein zu hacken, blieb uns Kindern nichts anderes übrig, als tote Zweige und Äste im Wald zu sammeln.
Die Suche nach gutem, trockenem Holz war eine Herausforderung. Wir stapften den Hang entlang, hielten Ausschau nach Stücken, die nicht mit Wasser voll gesogen oder vermodert waren, und schüttelten Schnee von Ästen. Aber das Holz war schrecklich schnell verbraucht, und im Vergleich zu einem Kohlenfeuer, das richtig heiß brennt, gibt ein Holzfeuer nicht so viel Wärme ab. Wir drängten uns in Decken gehüllt um den dickbauchigen Ofen und hielten die Hände in die schwache, rauchige Hitze, die ihm entströmte. Mom sagte, wir sollten dankbar sein, weil wir besser dran wären als die Pioniere damals, die noch nicht so moderne Bequemlichkeiten hatten wie Fensterscheiben und gusseiserne Öfen.
Einmal hatten wir ein loderndes Feuer entfacht, doch selbst dann noch konnten wir unseren Atem sehen, und die Fensterscheiben waren auf beiden Seiten vereist. Brian und ich fanden, dass wir ein noch größeres Feuer bräuchten, und zogen los, um mehr Holz zu sammeln. Auf dem Rückweg blieb Brian stehen und blickte auf unser Haus. »Auf unserem Dach liegt kein Schnee«, sagte er. Es stimmte. Der ganze Schnee war geschmolzen. »Auf allen anderen Häusern liegt Schnee«, sagte er. Auch das stimmte.
»Unser Haus ist schlecht isoliert«, sagte Brian zu Mom, als wir wieder drin waren. »Die ganze Wärme verschwindet durchs Dach.«
»Na schön«, sagte Mom, als wir wieder alle um den Ofen versammelt waren, »wir haben keine Wärmeisolierung, aber dafür haben wir uns.«
Es wurde so kalt im Haus, dass Eiszapfen von der Küchendecke hingen, das Wasser in
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