Schloss aus Glas
Amsel, über die wir eine Wolldecke warfen. Wir dachten, wir könnten sie braten, aber wir brachten es nicht fertig, den Vogel zu töten. Er sah sowieso zu mager aus.
Wir hatten gehört, dass sich aus Kermesbeerblättern ein leckerer Salat zubereiten ließ, und da das Kraut hinter unserem Haus massenweise wuchs, dachten Brian und ich, ein Versuch könnte nicht schaden. Falls es was taugte, hätten wir eine ganz neue Nahrungsquelle. Zuerst probierten wir die Kermesbeere roh, aber das schmeckte furchtbar bitter. Dann kochten wir sie, doch sie schmeckte noch immer säuerlich und zäh, und uns brannte noch Tage später die Zunge.
Einmal, als wir wieder auf Nahrungssuche waren, entdeckten wir ein verlassenes Haus und kletterten durchs Fenster hinein. Die Zimmer waren winzig und hatten keine Fußböden, nur nackte Erde, aber in der Küche fanden wir Regale voll mit Konservendosen.
»Schlaraffenland!«, rief Brian.
»Mahlzeit!«, sagte ich.
Die Büchsen waren verstaubt und angerostet, aber wir dachten, das Essen darin wäre bestimmt noch gut, denn dafür waren Konservendosen ja schließlich da. Ich gab Brian eine Dose Tomaten, und er holte sein Taschenmesser hervor. Als er den Deckel durchbohrte, explodierte ihm der Inhalt ins Gesicht und bedeckte uns mit einer sprudelnden braunen Brühe. Wir versuchten es noch bei ein paar anderen Dosen, aber auch sie explodierten, und wir gingen mit leerem Magen und tomatenbesudelt nach Hause.
Als ich im Herbst in die sechste Klasse kam, machten die anderen Kinder sich über Brian und mich lustig, weil wir so
dünn waren. Sie nannten mich Spinnenbein, Skelett, Pfeifenreiniger, Schnittlauch, Klapperstange, Knochengestell, Bohnenstange und Giraffe und sagten, wenn ich mich bei Regen unter eine Telefonleitung stellen würde, bliebe ich trocken.
Wenn andere Kinder mittags in der Pause ihre Brote auspackten oder sich was Warmes zu essen kauften, holten Brian und ich unsere Bücher hervor und lasen. Brian erzählte jedem, er müsse sein Gewicht niedrig halten, weil er in die Ringermannschaft wolle, wenn er auf die Highschool kam. Ich sagte, ich hätte meinen Lunch vergessen. Keiner glaubte mir, deshalb versteckte ich mich in der Mittagspause auf dem Klo. Ich schloss mich in einer Kabine ein und zog die Füße auf den Klodeckel, damit mich niemand an den Schuhen erkannte.
Manchmal kamen andere Mädchen herein und warfen Essensreste in die Abfallkörbe, wo ich sie wieder herausholte. Es war mir unbegreiflich, wie man das ganze Essen, an dem nichts auszusetzen war, wegwerfen konnte: Äpfel, hart gekochte Eier, Päckchen mit Erdnussbutter-Kräckern, Gurkenscheiben, kleine Tetrapacks Milch, Käsebrot, von dem nur ein Mal abgebissen worden war, weil das Mädchen den Pfeffer im Käse nicht mochte. Ich verschwand immer wieder in der Kabine und verputzte meine leckere Beute.
Manchmal lag in den Abfallkörben sogar mehr Essbares, als ich allein schaffen konnte. Das erste Mal stopfte ich das, was ich nicht mehr essen konnte - ein Mortadella-Käse-Sandwich -, in meine Schultasche, um es für Brian mit nach Hause zu nehmen. Doch als ich wieder in der Klasse war, überlegte ich, wie ich Brian erklären sollte, wo ich das Sandwich herhatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass auch er den Abfall durchwühlte, aber wir sprachen nie darüber.
Während ich mir noch den Kopf zermarterte, roch ich plötzlich die Mortadella. Der Geruch wurde immer stärker, und ich bekam Angst, die anderen Kinder würden es auch riechen und sich zu mir umdrehen und meine pralle Tasche sehen, und da alle wussten, dass ich mittags nie etwas aß, wür-
den sie sich denken können, dass ich was aus dem Abfall gekramt hatte. Gleich nach der Stunde lief ich aufs Klo und steckte das Sandwich wieder in den Abfallkorb.
Maureen hatte immer genug zu essen. Mit ihren fünf Jahren sah sie aus wie ein kleiner Engel und hatte in der Nachbarschaft viele Freundinnen, zu denen sie immer kurz vor dem Abendessen zum Spielen ging. Ich hatte keine Ahnung, wie Mom und Lori über die Runden kamen. Mom wurde seltsamerweise immer dicker. Eines Abends, als Dad nicht da war und wir wieder nichts zu essen hatten und alle im Wohnzimmer saßen und versuchten, nicht ans Essen zu denken, verschwand Mom immer mal wieder unter der Decke auf der Schlafcouch. Irgendwann blickte Brian zu ihr hinüber.
»Kaust du da was?«, fragte er.
»Mir tun die Zähne weh«, sagte Mom, aber sie bekam einen ganz nervösen Blick und mied es, uns in die Augen zu sehen.
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