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Schloß Gripsholm

Schloß Gripsholm

Titel: Schloß Gripsholm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Tucholsky
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gespielt.
    Und der Vater hatte dabei so gelacht, er konnte so wun-
    dervoll lachen … „Was tust du?“ hatte das Kind gefragt.
    „Ich denke“, hatte der Vater gesagt. „Ich will auch den-
    ken.“ — „Gut … denke auch!“ Und er war ernsthaft in der
    Stube auf und ab gegangen, das Kind immer hinterher, es
    ahmte genau die Haltung des Vaters nach, würdeschwer
    hielt es die Hände auf dem Rücken, runzelte die Stirn wie
    er … „Was denkst du?“ hatte der Vater gefragt. „Ich denke:
    Löwe —“ hatte das Kind geantwortet. Und der Vater hatte
    gelacht …
    Nebenan schnaufte Inga und warf sich hin und her.
    Das Kind war plötzlich wieder da, wo es wirklich war: in
    Schweden. In Läggesta. Mutti war in der Schweiz, so weit
    fort … das Kind fühlte es heiß in sich hochsteigen. Es hatte
    so viel flehentliche Briefe geschrieben, drei, eigentlich nur
    drei — dann war der Teufelsbraten dahinter gekommen,
    daß eines der Dienstmädchen die Briefe heimlich zur Post
    getragen hatte. Das Mädchen wurde entlassen, das Kind
    an den Haaren gezogen, und die Briefe, die nun nach der
    Schweiz gingen, waren musterhaft. Ja, vielleicht mußte das
    alles so sein. Vielleicht hatte die Mutter kein Geld, um das
    Kind bei sich zu behalten, und hier oben war es eben billi-
    ger. So hatte es ihm die Mutter erklärt.
    Es war hier so allein. Es war unter den neununddreißig
    kleinen Mädchen ganz allein — und es hatte Angst. Sein
    Leben bestand eigentlich nur aus Angst. Angst vor dem
    Teufelsbraten und Angst vor den ältern Mädchen, die es
    anschwärzten, wo sie nur konnten, Angst vor dem näch-
    sten Tag und Angst vor dem Vortag, was von dem nun wie-
    der ans Licht kommen könnte, Angst vor allem, vor allem.
    Das Kind schlief nicht — es bohrte mit seinen Augen Lö-
    cher in das Dunkel.
    Daß die Mutter es hierher gegeben hatte! Hier waren
    sie einmal gewesen, vor Jahren, vor drei, vier Jahren — und
    damals war der Bruder Will gestorben. Er lag da begra-
    ben auf dem Kirchhof in Mariefred, und das Kind durfte
    manchmal das Grab besuchen, wenn der Teufelsbraten das
    erlaubte oder befahl. Meist befahl er es. Dann stand es an
    dem kleinen Kindergrab, rechts, die vierzehnte Reihe, das
    mit dem grauen Steinchen, an dem die Buchstaben noch
    so neu schimmerten. Aber dort hatte es nie geweint. Es
    weinte nur manchmal zu Hause um Will — um den dicken,
    kleinen Will, der jünger gewesen war als das Kind, jünger,
    toller im Spiel und ein guter Junge. Hier und da bekam
    er einen Klaps, aber die Mutter tat ihm nicht weh, und
    er lachte unter seinen Kindertränen und war dann wie-
    der ein guter, kleiner Spieljunge. Wie aus Wolle. Und dann
    wurde er krank. Eine Grippe, sagten die Leute, und nach
    vier Tagen war er tot. Das Kind roch noch den Arztgeruch,
    das war nicht hier gewesen, das war in Taxinge-Näsby, nie
    würde es den Namen vergessen. Den säuerlichen Arztge-
    ruch, das „Psst!“ — alles ging leise, auf Zehenspitzen, und
    dann war er gestorben. Wie das war, hatte das Kind ver-
    gessen. Will war nicht mehr da.
    Der Bruder nicht. Mutti nicht. Vater weggegangen, wo-
    hin … Niemand war da. Das Kind war allein. Es dachte
    das Wort nicht — viel schlimmer: es fühlte die Einsamkeit,
    wie nur Kinder sie fühlen können.
    Die kleinen Mädchen raschelten in den Kissen. Eins
    flüsterte im Schlaf. Das war jetzt der zweite Sommer hier
    oben. Es würde nie anders werden. Nie. Mutti soll kommen,
    dachte das Kind. Aber sie müßte es hier fortnehmen, denn
    gegen Frau Adriani kam auch Mutti nicht auf. Niemand
    kam gegen sie auf. Schritte? Wenn sie jetzt käme? Ein-
    mal war Gertie krank gewesen; da war Frau Adriani fünf
    Mal in der Nacht heraufgekommen — fünf Mal hatte sie
    nach dem kranken Kind gesehen, sie hatte fast eifersüchtig
    mit der Krankheit gekämpft. Und zum Schluß hatte sie
    das Fieber besiegt. Wenn sie jetzt käme? Nichts — eins
    der acht Betten hatte geknarrt. Das war Lisa Wedigen, die
    schlief immer so unruhig. Wenn doch einer — wenn doch
    einer — wenn doch einer … Morgen war Baden im See. Da
    spritzen einen die Mädchen immer so mit Wasser. Wenn
    doch einer —
    Die Hände des Kindes tasteten vorsichtig unter das
    Kopfkissen, suchten im Laken, verschoben alles. Fort?
    Nein. Sie waren noch da.
    Unter dem Kopfkissen lagen, verwelkt und zerdrückt,
    zwei kleine Glockenblumen.
    DRITTES KAPITEL
    Ei ist Ei, sagte jener —
    und nahm das größte.
    1
    Wir beugten uns beide über den Brief und lasen

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