Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
abstürzt.
Zu meiner nicht geringen Überraschung gehorcht Ralf-Georg sofort. So einfach ist das also? Das hätte ich mal eher machen sollen. Doch das Leben ist eben nicht leicht, wenn man sechs Jahre alt ist, rosa Kleider anziehen muss und die Welt durch Brillengläser sieht, die dick wie Colaflaschenböden sind. So sah ich nämlich als Kind aus. Schlimm. Marvin würde mir da sicher zustimmen, obwohl er natürlich keine rosa Kleider trägt, sondern ein ziemlich lässiges Outfit, mit dem er auch in der HipHop-Szene der amerikanischen Ostküste eine gute Figur machen würde. Er guckt auf jeden Fall ziemlich erleichtert, als er wieder festen Boden unter sich hat.
»Cool, Silke«, sagt er und bedankt sich mit einem komplizierten Handschlagritual bei mir, dem ich nicht ganz folgen kann. Von Ralf-Georg verabschiedet er sich mit einem durchaus ernst gemeint klingendem: »Meine Rache wird furchtbar sein!« Dann schlurft er lässig davon. Ich sehe ihm hinterher und fühle mich einen Moment lang sehr alt. So ein Selbstbewusstsein, so gesund wie aus der Werbung für linksdrehenden Yoghurt, hätte ich als Kind auch gerne gehabt. Oder wenigstens jetzt. Stattdessen entferne ich mich lieber schnell aus dem Einzugsbereich von Ralf-Georg. Er ist zwar angeleint, aber man weiß ja nie.
Ich werfe noch einen vorsichtigen Blick zurück. Ralf-Georg hat eine Pistole aus der Tasche gezogen, mit der er wild herumfuchtelt. Die Waffe ist zum Glück aus Plastik, das kann sogar ich sehen. Jedesmal, wenn er nervös am Abzug rumschnipst, kommt vorne eine kleine Flamme heraus. Bestimmt eines der albernen Werbegeschenke, die in der Firma seines Vaters bedruckt werden. Seit Ralf-Georg einen sehr unangenehmen Druckfehler auf Taschenmessern verschuldet hat, die für einen wichtigen Kunden gedacht waren, wird er angeblich sehr knapp gehalten. Darf nur noch auf kleiner Flamme kochen.
Doch was interessieren mich die Probleme meines Sandkastenfeindes? Habe ich nicht genug eigene? Aber auch über die möchte ich lieber nicht nachdenken.
Neben dem Eingang zum Feuerwehrhaus ist eine weitere Wand aufgebaut worden. Seltsam, dass Fest scheint überwiegend aus Wänden zu bestehen. Diesmal ist es keine Kletter-, sondern eine überdimensionierte Pinnwand, an der ungefähr zwanzig Fotos hängen. Auf den Bildern ist kaum was zu sehen. Mal eine Hausecke, mal ein Busch, ein Giebel oder ein Stück Zaun. Die Ausschnitte sind eng gewählt, man kann nicht erkennen, wo welches Foto aufgenommen wurde. Eine Kunstausstellung, denke ich im ersten Moment. Die Assoziation mag auch durch die Anwesenheit meiner ehemaligen Kunstlehrerin ausgelöst sein, die gerade vergeblich versucht, ihr hüftlanges, hennarotes Haar mit einer völlig überforderten Libellenspange und ein paar Haarklammern am Hinterkopf festzustecken, um wenigstens ihr Gesichtsfeld freizulegen und einen besseren Blick auf die Stellwand zu bekommen. Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens. Als sie jung war, kamen Doppelnamen in Mode, aber sie hat sich nie damit begnügt, einem Trend bloß zu folgen, sie musste immer noch einen draufsetzen. Das hat aber irgendwann nachgelassen. Sie fährt immer noch ihre Ente, die sie in den frühen Achtzigern mit einem kleinen Pinsel eigenhändig lila angemalt hat. Die Reifen hatte sie nicht ausgelassen, die sind jetzt allerdings wieder schwarz. Meine Mutter hat mal behauptet, es gäbe gar keine Dreifachnamen, die seien illegal und schon Doppelnamen sollten verboten werden, deshalb hat sie meine Kunstlehrerin immer als potentiell »kriminelles Subjekt« betrachtet. Meiner Meinung nach steckt dahinter eine Portion Eifersucht. Oder vielleicht ist Mutti auch nur neidisch, weil sie noch nicht mal einen zweiten Vornamen hat.
Ich stelle mich neben sie, erstens, um die Fotos zu betrachten, zweitens, weil ich ihren Duft einatmen möchte. Frau Wegener-Kaltenbach-Sörens riecht, seit ich denken kann, immer nach Lebkuchen. Zu jeder Jahreszeit. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich lasse mich von einer Wolke köstlichen Gebäckduftes einhüllen. Ich habe mir mal vorzustellen versucht, was eine Aura ist. Bei anderen Menschen habe ich so etwas nie gespürt. Nur bei meiner Kunstlehrerin. Und ich könnte sogar beschreiben, wie ihre Aura aussieht: Wie ein großer runder original Nürnberger Elisenlebkuchen.
»Hallo Silke! Schön, dich mal wieder zu sehen. Möchtest du etwas warmes Neumondwasser mit Ingwerstückchen? Das regt die Verdauung an.« Sie zieht eine Thermoskanne aus ihrer großen
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