Schlüsselfertig: Roman (German Edition)
Warum musste sie auch ausgerechnet an diesem Wochenende zu Wolfgang fahren? Obwohl, ich muss zugeben, das mit der Fernbeziehung kriegen die beiden ganz gut hin. Gerade, weil sie sich konsequent mindestens jedes zweite Wochenende sehen – ob nun Feuerwehrball ist oder nicht. Und Wolfgang hasst gesellschaftliche Ereignisse, bei denen kein anständiger Wein ausgeschenkt wird.
»Apropos Essen: Was tropft denn da?« Dodo zeigt auf meine Hand, in der ich noch immer die Plastiktüte aus Knurres Kramerlädchen halte. Meine Zutaten für Birne Helene – die habe ich ja ganz vergessen! Das Vanilleeis ist seines festen Aggregatzustandes offensichtlich überdrüssig geworden und schlängelt sich in malerischen Schlieren durch eine zur Tülle gewordenen Ecke über meine Hose das Bein herab, um auf der Terrasse meines Schuhs ein Sonnenbad zu nehmen. Bäh! Ich strecke meinen Arm so weit es geht von mir und sage: »Igittigitigitt! Das war mal Vanilleeis.« Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich die Tüte komplett in den nächsten Mülleimer werfen soll, aber das wäre schade um die Dosenbirnen und die Schokoladensoße. Lebensmittel wirft man nicht weg, das ist in meinem Wertemodell nicht vorgesehen. Lieber friert man etwas ein, was dem Vanilleeis durchaus besser bekommen wäre. Wenn wir nun in der Stadt gewesen wären, hätte es ja noch die Möglichkeit gegeben, dass ein Obdachloser die Tüte im Müll findet und sich über die tadellos erhaltenen Kalorien freut. Aber hier im Dorf gibt es keine Obdachlosen. Und die Chance, dass ein halbverhungerter Hund die Dose mit seinen Zähnen knackt und den Schaubverschluss der Schokosoßenflasche mit der Zunge öffnet, ist auch verschwindend gering. Die Hunde werden hier so reichlich gefüttert, dass sie nie eine Notwendigkeit darin sehen werden, derlei Zivilisationstechniken zu erlernen.
Dodo guckt kurz in ihre gigantisch große Umhängetasche und zieht ein feuchtes Tuch hervor. Geschickt wischt sie damit meine Hose und den Schuh sauber. »Internationale Mütterausrüstung«, erklärt sie und verstaut meine undichte Tüte in einem höchstwahrscheinlich lochfreien Modell. Ich stehe da wie eine ungeschickte Dreijährige – und fühle mich sehr umsorgt.
Dodo und ich enträtseln gemeinsam alle Bilder, füllen einen Zettel aus und geben ihn der männlichen Maren Gilzer im Feuerwehrlook.
»Danke, dass du mir geholfen hast, Silke. Mir ist mal wieder klar geworden: Ich muss noch viel dazulernen«, sagt Dodo.
»Wieso das denn? Ist doch nicht schlimm, dass du meine Bickbeerbüsche nicht erkannt hast.«
»Schlimm ist das nicht. Aber ...« Dodo bricht mitten im Satz ab und schweigt.
»Hat es etwas mit deinem politischen Netzwerk zu tun? Mit dem, was du vorhast, uns aber auf der Tupperparty nicht verraten wolltest? Sagst du mir jetzt endlich, um was es geht?«
»Nein«, wehrt Dodo ab, »das ist immer noch zu früh. Es wäre nicht gut für dich, wenn du davon weißt. Also: Hab Geduld. Du erfährst schon noch rechtzeitig, um was es geht.«
Kommt die mir schon wieder mit dieser Geduld-Nummer! Es ist nicht zum Aushalten! Aber Dodo betrachtet schon entzückt das Foto vom Hauptpreis, dem Eselfohlen. Das könnte sie gut gebrauchen, denn ihre Tochter ist ziemlich scharf auf alles, was auch nur annähernd nach Pony aussieht und hat bald Geburtstag. So ist das, wenn man Kinder hat, notfalls muss man sich dem Glücksspiel zuwenden, nur um ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Ob ich dazu in der Lage wäre? Schwer zu sagen.
Über dem Dorf ziehen sich Wolken zusammen, so dick wie die Erbsensuppe aus der Gulaschkanone, die von den Landfrauen verkauft wird. Angeblich ist die selbstgemacht, das steht jedenfalls auf dem Schild, und der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die suppenausgebende Landfrau sorgfältig etwas – wirklich nur ganz wenig! – Petersilie über jede Portion streut und jeden, der ein nicht völlig leergegessenes Plastikschälchen zurückgibt, mit einem frostigen Wenn-das-meine-hungernde-Großmutter-im-Krieggesehen-hätte- Blick straft. Doch auf diese bühnenreife Darstellung würden eh nur Touristen hereinfallen, vielleicht noch Zugereiste aus der Stadt – das sind alle Menschen, die noch nicht mindestens fünfzehn Jahre im Ort wohnen. Alle anderen wissen, dass die Erbsensuppe vom Großhandel kommt. Meine Mutter besorgt sie dort in gigantischen Dosen zum Schleuderkurs und gibt sie mit einem, wie sie stets betont, sehr geringen Aufpreis an die Landfrauen
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