Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Respekt anderer zu bekommen, indem Sie sich zur Verfügung stellen. Für Sie ist das eine
Einbahnstraße, Sie selbst dürfen andere nicht um Hilfe bitten. Tatsächlich zahlt sich diese Art Altruismus |114| nicht aus. Ein gesunder Eigennutz und die Fähigkeit, sich abzugrenzen, werden Ihnen zu mehr Respekt verhelfen, als wenn Sie
sich bemühen,
everybody’s darling
zu sein.
Everybody’s darling is everybody’s fool.
Sie schreiben nicht an Ihrer Doktorarbeit weiter, weil Ihr Freund gerade Hilfe bei der Einrichtung seines neuen Ladens braucht?
Nichts dagegen zu sagen, wenn das ab und zu vorkommt. Wenn es aber zum Dauerzustand wird, wenn Sie monatelang nicht mehr Ihr
eigenes Ding machen, weil Sie ihm das angeblich nicht zumuten können, dann sind Sie koabhängig. Koabhängigkeit bedeutet, dass
Sie mit einer Person, die ein Problem hat, ein System bilden, das solange stabil ist, wie Sie sich um diese andere Person
kümmern. Tun Sie das nicht, dann geraten Sie beide in Schwierigkeiten.
Anja verschanzt sich immer wieder hinter der Behauptung, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, die Konflikte mit Horst
zu klären. Richtig ist, dass Horst oft sehr eingespannt ist, müde und gestresst heimkommt und dann wirklich keine Lust auf
Konfliktgespräche hat – Anja aber ebenso wenig, denn sie würde in einem solchen Gespräch erkennen, wie viele Freiräume sie
hat, die sie bislang nur aufgrund ihrer eigenen Probleme nicht ausnutzen kann. Diese Einsicht wäre zwar zunächst schmerzlich
und beschämend – deswegen meidet Anja das Gespräch ja –, mittelfristig aber wohltuend, weil deutlicher werden würde, welche
Erwartungen Horst wirklich an Anja richtet und welche ihrer eigenen Fantasie entstammen.
Wenn Sie zu viele verschiedene Rollen und Verantwortlichkeiten übernehmen, wird es immer schwerer, eindeutige Prioritäten
zu setzen. Dummerweise lassen sich aber vor allem Ihre nur diffus gespürten eigenen Bedürfnisse und Wünsche besonders gut
wegschieben. Um diese klarer zu empfinden, brauchen Sie Zeit und Muße für sich. Durch Ihre vielen Verpflichtungen kommen Sie
gerade nicht dazu, Ihr eigentliches Defizit zu beseitigen. So wie Beate verlieren Sie sich in Aktion und gehören zu den Leuten,
die überall hingehen und nirgends ankommen. Sie sind in Gefahr, zum Workaholic zu werden. Sie können kaum entspannen, ohne
Schuldgefühle zu haben oder in Unruhe zu geraten. Sie kennen durch Ihren bisherigen Lebensstil nur zwei Zustände: bis zur
Halskrause in Arbeit zu stecken, oder total erledigt zu sein, zumeist durch eine Erkältung, die Sie ins Bett streckt. Wirklich
freie Zeit zu haben, unstrukturierten Raum, ist für Sie unvertraut |115| und fühlt sich nicht richtig an. Möglicherweise haben Sie seit Jahren keinen Urlaub gemacht. Es verwundert also nicht, dass
Aufschieber und Workaholics zum Teil die gleichen Einstellungen haben:
Beide sehen sich ständig unerledigten Aufgaben gegenüber. Sie haben das Gefühl, immer zu arbeiten und auch keine Pause verdient
zu haben.
Beide hoffen darauf, eines Tages so gut organisiert oder so erfolgreich zu sein, dass sie ihr Leben genießen können.
Beide haben negative Auffassungen über Arbeit: Sie dämonisieren Arbeit, sehen Aufgaben, die Opfer und Entbehrungen verlangen,
als potenziell unersättlich an. Workaholics bringen diese Opfer, oft aus Angst vor Depression und Intimität. Aufschieber fliehen
halbherzig aus Angst, nie wieder freie Zeit zur eigenen freien Verfügung zu haben, sondern von den Pflichten aufgefressen
zu werden.
Beide glauben, dass Menschen im Grunde genommen faul und undiszipliniert sind und mit Ängsten bedroht werden müssen, um ihre
Arbeit zu erledigen. Workaholics sind gehorsam, Aufschieber aufsässig, also etwas gesünder.
Scham
Sie können Entscheidungen und Vorhaben auch deshalb aufschieben, weil ein Scheitern mit dem Risiko von Beschämung verknüpft
ist. Allerdings können Sie sich – je nachdem, wie perfektionistisch Sie sind – auch für Ihr Aufschieben schämen. Das ist aber
eventuell leichter zu ertragen als die Beschämung nach einem richtigen Flop.
Scham kann sich auf zwei Ebenen zeigen: Sie können fürchten, sich durch eine Handlung bloßzustellen, und Sie können sich vor
dem fürchten, was sich dabei Ihnen selbst oder den anderen zeigen könnte. Schwäche, Schmutzigkeit und Defekt sind die Aufschriften
auf den Ordnern, in denen Sie die verschiedensten Dinge abgeheftet
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