Schmerz - Piccirilli, T: Schmerz - The Midnight Road
dass sein Gegenüber ein ganz klein bisschen früher aufgegeben hatte als er. Mooneys Interesse schwankte zwischen Faszination, Eigennutz und dem aufrichtigen Wunsch zu helfen. Flynn wusste, dass Mooney selbst in Analyse war, und fragte sich, was sein Analytiker wohl von ihm hielt.
Aber er durfte sich nicht ablenken lassen. Er sah Mooney fest in die Augen, bis er glaubte, Kontakt hergestellt zu haben. Wenn Mooney ihm helfen konnte, dann jetzt.
»Was will er mir sagen?«, fragte Flynn.
»Auf den ersten Blick scheint es offensichtlich. Der Betreffende leidet.«
»Gut, aber wie hilft mir das weiter? Wie locke ich ihn hervor?«
Mooney vergaß seine Marotten und saß jetzt konzentriert und selbstbewusst da. Wie zwei Kerle, die ein Bier tranken und sich ein Baseballspiel ansahen. »Ich bin nicht hundertprozentig sicher, ob das erstrebenswert ist. Wir wissen bereits, was ihn anlockt. Sie.«
»Richtig.«
»Und er benutzt andere, um seine Nachrichten zu übermitteln. Ihn aus der Reserve zu locken, bedeutet also, andere in Gefahr zu bringen. Wir wollen schließlich nicht, dass das auf dieselbe Weise geschieht wie bisher.«
Flynn musste kurz darüber nachdenken. »Nein. Wie bekomme ich ihn dazu, dass er sich voll und ganz auf mich konzentriert?«
»Sie gehen davon aus, dass ich in alle Einzelheiten eingeweiht bin. Das bin ich nicht. Erzählen Sie von Anfang an.«
Er konnte noch so weit zurückgehen, er würde nie ganz bis an den Anfang kommen. Flynn beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, und fing bei Shepards Anruf an. Nuddin im Käfig, voller Narben. Christina Shepard mit der Pistole in der Hand, das Gerede
von ihrem Vater, der Verrat ihres Mannes, die Flucht auf das Eis, das Ende im Long-Island-Sund. Die Morde. Den sprechenden toten Hund behielt er nach wie vor für sich.
»Haben Sie spezielle Fragen?«, wollte Mooney wissen.
»Erstens, warum diese Aggression gegen Nuddin? Die Schläge, der Käfig?«
»Darauf gibt es natürlich keine eindeutige Antwort. Die Familie fühlte sich womöglich beschämt, weil sie einen geistig Behinderten in der Familie hatte. Es kann aber auch eine Art versuchte Rehabilitation gewesen sein. Autismus ist immer noch eine weitgehend unbekannte Störung, zu der es einen Haufen widersprüchlicher Theorien und Behandlungsformen gibt.«
»Sie behauptete, ihn beschützen zu wollen. Ihn vor der Welt zu retten.«
»Typisch für eine solche Persönlichkeitsstörung ist das Bedürfnis zu ›überbehüten‹, bis hin zu dem Punkt, an dem das Individuum Schaden erleidet. Ich denke, das hat mit Angst zu tun. Wir glauben, dass, wenn ein Mensch einem anderen etwas antut, dies aus Wut geschieht, aber es kann genauso gut aus Liebe sein, ob fehlgeleitet oder nicht. Ein ganz simples Beispiel ist der Vater, der seinem Kind den Hintern versohlt, um ihm beizubringen, nicht mit Streichhölzern zu spielen. Ein passenderes wäre vielleicht die Mutter, die Angst um ihre jugendliche Tochter hat, die die ganze Nacht nicht nach Hause kommt. Als die Tochter morgens wohlbehalten heimkehrt, bekommt sie von ihrer verängstigten und vollkommen aufgelösten Mutter als Erstes eine
Ohrfeige, wird vielleicht sogar verprügelt. Der Beweggrund ist Liebe in Verbindung mit Angst. Nach außen projizierter Selbsthass, der durch Sie katalysiert und in die Tat umgesetzt wird.«
Flynn flüsterte: »Aber was habe ich getan?«
»Die Wut des Betreffenden auf sich selbst … eskaliert. Er verliert die Kontrolle, der Anruf zeigt das, bleibt dabei aber enorm geduldig, wie man dem Mord an der alten Dame auf der Kinotoilette entnehmen kann.«
»Sie meinen, er schießt einer Frau eine Kugel in den Kopf und verliert jetzt erst die Kontrolle?«
»Im Wesentlichen, ja. Aber das war nicht der Punkt, an dem sich Ihre Leben gekreuzt haben. Er hat Sie davor ausgewählt, aus welchem Grund auch immer. Der Killer handelt vorsätzlich, und er ist in Ihr Leben verwickelt. Er ist gefasst, vollkommen bei der Sache und geduldig. Aber in der direkten Kommunikation mit Ihnen – den Briefen, dem Anruf – da öffnet er sich emotional. Da zeigt er Schwäche. Er legt Wert auf Ihre Anteilnahme. Ihre Meinung ist ihm wichtig.«
»Aber warum?«
»Vielleicht ist es jemand, den Sie gut kennen.«
Mooney war gut darin, das Offensichtliche auszusprechen, aber es so aus seinem Mund zu hören, zwang Flynn doch, noch mal genauer nachzudenken. Wusste er womöglich, wer der Killer war? Hatte er sein Gesicht gesehen und kam nur nicht dahinter?
Im Kino
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