Schmerzlos: Thriller (German Edition)
streckte den Arm aus, packte seine rote Krawatte und zog ihn zu mir, um ihn zu küssen. »In den vierundzwanzig Stunden, die ich weg bin, wird deine Munition schon nicht verfaulen.«
Ich schleppte mein Gepäck die ganzen fünfzehn Meter an Blumenbeeten vorbei über den Gehsteig bis zum Ticketschalter. Das Terminal in Santa Barbara ähnelt weniger einem Flughafen als einer Hazienda, die direkt aus einer Tourismusbroschüre entsprungen scheint und dem geschätzten Touristen suggerieren soll, dass er im Fiestaland angekommen ist. Ich zeigte meinen Ausweis und bezahlte die Steuern für den Flug. Das war das Beste daran, Tochter meiner Mutter zu sein. Da sie bei einer Fluggesellschaft arbeitete, flog ich praktisch umsonst, und das weltweit. Die Angestellte am Schalter reichte mir mein Flugticket, und ich ging weiter zur Sicherheitskontrolle.
Neunzig Minuten später hob das kleine Flugzeug in Richtung Norden ab. Ans Fenster gelehnt sah ich zu, wie unter mir Kalifornien vorbeizog. Heaneys Täterprofil von Coyote ging mir einfach nicht aus dem Kopf.
Heaney hatte erwähnt, dass Coyote sich Notizen machte. Dass er ein Tagebuch führte. Zwanghaft. Das erinnerte mich unangenehm an Jax und Tim. In meinem Bankschließfach lagen Notizen, Tagebücher, Briefe, die die beiden über zwanzig Jahre hinweg gesammelt hatten. Die Unterlagen enthielten Angaben – bis hin zu genauen Details – zu den verdeckten Operationen, an denen die beiden beteiligt gewesen waren. Schmutzige Arbeit, um im Jargon der Geheimdienste zu bleiben.
Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass einer der beiden Coyote war. Allerdings hielt ich es für ganz und gar nicht unwahrscheinlich, dass sie den Auftrag hatten, Coyote zu liquidieren. Vielleicht hatten ihnen Ihre Arbeitgeber bei der CIA oder NSA oder irgendeiner anderen Organisation mit drei Buchstaben befohlen, diesen Killer aus dem Weg zu schaffen. Falls ja, benutzten sie mich womöglich dazu, Coyote aus seinem Versteck zu locken. Indem sie Druck auf mich ausübten – damit ich meinerseits Druck auf Polizei und FBI ausübte -, konnten sie Coyote so nervös machen, dass er irgendwann einen Fehler beging. Und dann konnten sie ihn sich schnappen. Mir trat der Schweiß auf die Stirn.
Vierzig Minuten später flogen wir in Schräglage an den grünen Küstenbergen und den verschlungenen Highways des Silicon Valley vorbei und landeten mit eingeschalteter Schubumkehr auf dem Flughafen von San José. Für die fünfundzwanzig Kilometer zum Haus meiner Mutter nahm ich einen Shuttle-Bus.
Als wir Palo Alto erreichten und über die von Bäumen gesäumte Embarcadero Road fuhren, fühlte ich mich, als käme ich nach Hause. Ich hatte in Stanford Jura studiert, und der weitläufige Campus meiner Alma Mater mit seinen Innenhöfen aus hellem Sandstein und den roten Ziegeldächern lag ganz in der Nähe.
Hier hatte ich mich wohlgefühlt, meine Kommilitonen und Professoren waren Ansporn und Herausforderung gewesen, und jedes Mal, wenn ich wieder in diese Stadt kam, fühlte ich mich ein Stück klüger, selbstbewusster und größer. Und vielleicht auch jünger.
Mein Vater betrachtete es als eine Art Verrat an meinem Jurastudium an einer der besten Universitäten des Landes, dass ich nach vier Jahren in einer Kanzlei gekündigt hatte. Warum hatte ich das bloß getan? Um mir mein Geld mit Gerichtsreportagen, dem Verfassen von Schriftsätzen für andere Anwälte und Science-Fiction-Romanen zu verdienen? Ich konnte immer noch hören, wie er sagte: Evan, du wirst den Rest deines Lebens Schulden haben.
Dabei wusste er, warum ich es tat. Die schlimme Zeit, in der Jesse dem Tode nah auf der Intensivstation lag, hatte mich gelehrt, dass man eine zweite Chance nicht einfach so wegwirft. An dem Tag, als sich herausstellte, dass er überleben würde, kündigte ich.
Meine Mutter lebte in einem wunderschönen, von Eichen umgebenen Haus im spanischen Stil. Es war nur sechs Kilometer von der Straße entfernt, in der meine Mutter aufgewachsen war, aber zwanzigmal mehr wert als das Haus meiner Großeltern. Sie hatte es gekauft, als sie die Stelle in San Francisco angenommen hatte. Nach ihrer Scheidung hatte sie das Geld aus ihrer nicht allzu hohen Abfindung in Aktien angelegt, die sie auf dem Höhepunkt einer Hausse wieder verkauft hatte. Was nicht weiter überraschte – immerhin war sie Flugbegleiterin, und ihr ganzes Leben drehte sich um den unumstößlichen Grundsatz: Was raufgeht, kommt auch wieder runter. Angie Delaney war eine kluge
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