Schmetterlinge im Gepaeck
darüber stolpern kann, und gehe der wie auch immer gearteten Folter entgegen, die mich drinnen erwarten wird. Die anderen sind um eine unserer Kücheninseln versammelt. Für ein Stadthaus haben wir eine ungewöhnlich groÃe Küche, denn meine Eltern haben das Esszimmer darin integriert, damit Andy mehr Platz für seinen Betrieb hat. Alle halten bereits einen Kuchenteller und ein Glas Milch in den Händen.
»Unglaublich.« Cricket wischt sich mit seinen langen Fingern die Krümel von den Lippen. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Kiwi in einen Kuchen zu tun.«
Andy sieht mich im Türrahmen stehen. »Beeil dich lieber, bevor der hier alles aufisst.« Er deutet mit dem Kinn auf seinen Gast. Nach auÃen ist mein Dad ganz gefasst, aber ich sehe ihm an, dass er sich innerlich diebisch freut. Wie schnell man doch die Seiten wechselt, wenn man ein Kompliment bekommt. Ich lächle, als wäre das alles ganz easy für mich. Aber insgeheim flippe ich aus. Cricket Bell. Isst Kiwikuchen. In unserer Küche. Dann stelle ich mich an den freien Platz neben ihn und staune mal wieder darüber, wie groà er ist. Er überragt mich bei Weitem.
Andy zeigt mit der Gabel auf die zweite Hälfte des grünen Kuchens. »Du kannst den Rest haben, Cricket.«
»O nein, das schaff ich nicht.« Aber seine leuchtenden Augen sagen etwas anderes.
»Ich bestehe darauf.« Mein Dad hält ihm den Teller hin. »Nathan beschwert sich immer, dass ich ihn mäste, also sollte der Kuchen besser weg sein, bevor er nach Hause kommt.«
Cricket dreht sich mit dem ganzen Körper zu mir um â Kopf, Schultern, Brust, Arme, Beine. Bei Cricket Bell gibt es keine halben Gesten. »Möchtest du noch ein Stück?«
Ich deute auf das Stück vor mir, das ich noch nicht mal angefangen habe.
»Lindsey?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht gerade unterversorgt mit Kuchen, so oft wie ich hier bin.«
Was will er eigentlich hier? Gibt es kein Campusfest, auf dem er sein sollte? Je mehr ich darüber nachdenke, desto ungehaltener werde ich. Wie kann er es wagen, hier aufzutauchen und davon auszugehen, dass ich freundlich zu ihm bin? Das tut man nicht.
»Wie geht es deiner Familie?«, erkundigt sich Andy.
Cricket schluckt. »Gut. Meine Eltern sind genau wie immer. Dad ist etwas zu erschöpft, Mom ist etwas zu enthusiastisch. Aber es geht ihnen gut. Und Cal ist natürlich mit ihrem Training beschäftigt. Bald sind die Olympischen Spiele und es wird ein wichtiges Jahr für sie. Und Aleck ist inzwischen verheiratet.«
»Komponiert er noch?«, fragt Andy. Alexander oder Aleck, wie es der Familien-Kosename gebietet, ist der ältere Bruder der Zwillinge. Er war schon auf der Highschool, als Calliope mit ihrer Eislauf-Ausbildung begann, und konnte dem Familiendrama daher weitgehend entfliehen. Ich kenne ihn nicht besonders gut, erinnere mich aber deutlich an die komplizierten Klavierkonzerte, die durch unsere Wände strömten. Alle drei Bells können in ihrem jeweiligen Fach als Wunderkinder bezeichnet werden.
»Und unterrichtet«, bestätigt Cricket. »AuÃerdem ist er letztes Jahr zum ersten Mal Vater geworden.«
»Mädchen oder Junge?«, fragt Lindsey.
»Ein Mädchen. Abigail.«
»Onkel ⦠Cricket«, stelle ich fest.
Lindsey und Andy prusten beide unkontrolliert los, aber Andy ist sofort empört darüber. Er sieht mich böse an. » Lola .«
»Nein, ist schon okay«, sagt Cricket. »Es ist absolut lächerlich.«
»Tut mir leid«, sage ich.
»Nein, bitte. Das muss es nicht.« Aber ihm stockt die Stimme, und er sagt es so schnell, dass ich ihn überrascht anblicke. Einen winzigen Moment lang sehen wir uns in die Augen. Schmerz flackert in seinen auf und er wendet sich ab. Er hat es nicht vergessen.
Cricket Bell erinnert sich an alles.
Mein Gesicht glüht. Ohne nachzudenken, schiebe ich meinen Teller weg. »Ich muss ⦠mich für die Arbeit fertig machen.«
»Ja, los.« Lindsey nimmt meine Hand. »Du kommst sonst zu spät.«
Andy wirft einen Blick auf den Frida-Kahlo-Wandkalender, in den ich immer meine Arbeitszeiten eintrage. Er sieht stirnrunzelnd zu Fridas zusammengewachsenen Augenbrauen hinüber. »Du hast für heute gar nichts aufgeschrieben.«
Lindsey zieht mich bereits die Treppe rauf. »Ich springe für jemanden ein!«,
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