Schmetterlingsschatten
nicht.
»Na, es ist ja nicht so, dass wir vorher so viel mit ihnen zu tun gehabt hätten, oder?«
»Ist doch egal.« Elena hatte keine Lust, sich mit Vivienne zu streiten. Doch die ließ nicht locker.
»Ich meine doch nur, dass du vorsichtig sein solltest. Bitte.«
»Schon okay.«
»Du bist sauer.«
»Nein.«
»Doch.«
Elena musste grinsen. Vivienne kannte sie zu gut. »Reden wir nicht mehr darüber.«
»Okay.«
Damit war das Thema abgeschlossen. Stattdessen erzählte Elena von dem zweiten anonymen Brief und von der seltsamen Reaktion ihrer Mutter gestern Abend. »Ich glaube, irgendwas ist da faul«, schloss sie endlich.
»Willst du deine Mutter noch mal nach Laura fragen?«
»Glaube nicht, wahrscheinlich ist sie noch wütend wegen gestern. Und wenn ich sie auf Lauras Tod anspreche, dreht sie sowieso völlig durch. Aber ich glaube, ich treffe mich mit diesem Typ. Kann ja nichts passieren, auf dem Marktplatz, oder?« Sie hoffte, dass sie damit auch recht hatte.
»Wenn du willst, kann ich ja mitkommen.«
»Klar, prima.« Sofort fühlte sie sich deutlich erleichtert.
»Und in der Zwischenzeit kannst du mal in Lauras Zimmer nachsehen. Vielleicht findest du etwas.«
»Was soll ich denn da finden?«
»Na, wenn es kein Unfall war, vielleicht hat sie dann etwas getan, wofür man sie umgebracht hat«, folgerte Viv. »Oder vielleicht wusste sie etwas.«
Elena überlegte. Warum sollte jemand Laura umbringen wollen? Da gab es eigentlich nichts. Sie war ein ganz normales Mädchen gewesen. Aber warum bekam sie dann diese Briefe?
»Werde ich machen«, antwortete sie Vivienne.
»Elena! Frühstück!« Die Stimme ihrer Mutter schallte das Treppenhaus hinauf.
»Muss Schluss machen. Ich ruf später wieder an. Tschau.«
»Bis später.«
Beim Frühstück redete ihre Mutter viel. Wenigstens hielt sie Elena nicht schon wieder einen Vortrag über ihre neuen Freunde. Darauf hatte sie wirklich keine Lust. Ihre Mutter schien darauf bedacht zu sein, den Streit aus dem Weg zu räumen, sie redete über alles Mögliche, die Buchhandlung, das Wetter, ihren Vater, doch alles, was Elena zustande bringen konnte, war eine kurze Antwort hier und da. Ihre Gedanken waren immer noch zu sehr mit dem vorherigen Abend beschäftigt.
»Ich bin dann oben«, sagte sie, als das Geschirr abgeräumt und in der Spülmaschine verstaut war. Ihre Mutter nickte nur.
Am oberen Ende der Treppe wandte sich Elena jedoch nicht nach rechts, sondern nach links, ging am Bad vorbei bis zur Tür am Ende des Ganges. Lauras Zimmer. Sie lauschte noch einmal und war beruhigt, als sie die Schritte ihrer Mutter im Erdgeschoss hörte. Sie wusste zwar nicht genau, warum, aber sie wollte nicht, dass ihre Mutter bemerkte, wohin sie ging.
Vorsichtig zog sie die Tür auf. Das Zimmer hatte sich seit einem Jahr nicht mehr verändert. Ihre Mutter wischte ab und zu mal Staub, das war aber alles. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrachtete Elena die bunt gestreifte Tapete, das breite Bett mit den nachtblauen Bezügen, die hellen Möbel und die Kunstdrucke an der Wand. Laura war immer viel ordentlicher gewesen als Elena und ihr Zimmer sah so erwachsen aus. Abgesehen von den Schmetterlingen vielleicht. Es waren fünf. Handtellergroß und farbenfroh, liebevoll aus Window Color hergestellt, klebten sie an der Fensterscheibe und färbten das hindurchfallende Licht bunt.
Elena zögerte kurz, bevor sie eintrat. Sie war nicht oft hier drin gewesen, seit Laura gestorben war, und sie kam sich wie ein Eindringling vor. Doch ihre Neugierde war zu stark.
Langsam ging sie eine Runde durch das Zimmer, betrachtete die Bücher im Regal, sah kurz in den Kleiderschrank, streifte mit der Hand über den Spiegel und blieb schließlich vor dem Schreibtisch stehen. Sie kam sich blöd vor. Immerhin wusste sie gar nicht, wonach sie eigentlich suchte. Nach einem Beweis, aber wofür eigentlich?
Sie ließ sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch fallen, stützte ihre Ellenbogen auf und legte das Kinn in die Hände. Nachdenklich starrte sie die Wand vor sich an. Dort hing ein Plakat, das im oberen Teil eine grüngraue Landschaft zeigte und darunter eine Menge Text. Elena kannte es inzwischen in- und auswendig. Es war ein Werbeplakat für Praktikumsstellen bei einer Lokalzeitung in Wales. Es richtete sich an Jugendliche, die Journalismus studieren wollten. Das Praktikum sollte einen Monat dauern. Laura hatte sich für eine dieser Stellen interessiert, aber sie war nicht mehr dazu gekommen,
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