Schmidt Liest Proust
Leben vor Augen zu führen, mit seinen Eitelkeiten, Erfolgen, Niederschlägen und Verletzungen, macht demütig. Dieser Erfahrung sollten wir uns aber stellen, halten wir uns also ein wenig bei Jochen Schmidt und seinem Schicksal auf und nehmen sein Beispiel zum Anlaß, unser eigenes Glück wieder schätzen zu lernen.«
Sodom und Gomorra, S. 69–90
Wir sind immer noch auf der Soirée der Prinzessin von Guermantes. Marcel wurde ihrem Mann noch nicht vorgestellt. Bei Madame d’Arpajon, der nächsten Hoffnungsträgerin, die das übernehmen könnte, fällt ihm der Name nicht ein. Gelegenheit für Überlegungen zum Mysterium der Gedächtnisarbeit, bei denen ich wieder an den Redakteur denken muß, dessen Namen ich vor ein paar Tagen so verzweifelt gesucht habe: » Dennoch war er da. […] Ich verspürte ungefähr seinen Umfang, sein Gewicht, aber was seine Form anlangte, so mußte ich mir, wenn ich sie mit dem düsteren Gefangenen, der sich im Dunkel meines Innern barg, verglich, immer wieder sagen: ›Der richtige ist das noch nicht.‹« Mein Gedächtnis als Gefängnis, in dem Lebenslängliche schmachten.
Man könnte sich natürlich die Freiheit nehmen, irgendeinen Namen zu verwenden, der einem zu passen scheint. Das Verfahren des Ausbilders in »Full Metal Jacket«. Aber man forscht und bohrt und stellt Hypothesen auf, » Etappennamen «. Wie und ob wir von ihnen aus schließlich zum richtigen Namen gelangen, ist ganz unergründlich. Als Autor kann man aber auch aus solch einem ärgerlichen Defizit einen Nutzen ziehen, denn die Dialektik der Erkenntnis liegt ja darin, daß nur wer an Schlaflosigkeit leidet, sich Gedanken über das Wesen des Schlafs macht: » Ein lückenloses Gedächtnis ist kein sehr mächtiger Anreger, um die Phänomene des Gedächtnisses zu studieren. «
Madame d’Arpajon ist auch ganz in Anspruch genommen von der Erscheinung ihrer Nachfolgerin in der Gunst des Herzogs von Guermantes, der Herzogin von Surgis-le-Duc, die wie eine Siegesgöttin auf einem Balkon posiert, deren Sturz aber natürlich schon in den Büchern des Schicksals verzeichnet steht. Ein komisches Bild, wenn man sich das Herz eines Mannes vorstellt, in dem sich die Geliebten ablösen, entweder mit einer geordneten Büroübergabe oder per Räumungsbefehl, bis man dann eines Tages ein beschwingtes Ehemaligentreffen veranstaltet, das im Zeichen der Versöhnung und des gemeinsamen Lästerns über die aktuelle Göttin steht.
Später wird die Madame d’Arpajon zu allem Unglück durch einen Windstoß von der Wassersäule des Springbrunnens überflutet und völlig durchnäßt. Daraufhin erhebt sich » ein rhythmisches Grollen, so stark, daß eine ganze Armee es hätte hören können «. Dieses Grollen ist das Lachen des Großfürsten Wladimir, womit nach den Deutschen auch die Russen ziemlich holzschnittartig charakterisiert worden wären. Für ihn war die durchnäßte Madame » eine der lustigsten Sachen, erklärte er späterhin gern, denen er jemals in seinem Leben als Zuschauer beigewohnt hatte «. Kein Wunder beim schwer nachvollziehbaren Humor der russischen Humoristen aus dieser Zeit.
Unklares Inventar:
– Springbrunnen von Hubert Robert, Anaphylaxie, » Er ist schon versehen worden «.
Verlorene Praxis:
– Seine Gewißheit, im Theater keinen schlechten Abend zu verbringen, dadurch bezeugen, daß man, schon während man der Garderobiere seine Sachen übergibt, die Lippen zu einem klugen, verstehenden Lächeln kräuselt und seine Blicke in einer durch Boshaftigkeit gewürzten Art der Anerkennung belebt.
– Balsam auf das Inferioritätsbewußtsein derer gießen, die sich unter einem befinden.
– Beim Betreten des Salons in seinen Augen geistvolle Flammen aufzucken lassen und diesen Ausdruck beibehalten, weil man es ermüdend fände, zwischendrin jedesmal das Licht erlöschen zu lassen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Es ist viel schwieriger, ein Meisterwerk zu verschandeln, als es hervorzubringen. «
– » [D]aß man den rein fiktiven Charakter dieser Liebenswürdigkeit durchschaute, galt in ihren Augen als ein Zeichen der Wohlerzogenheit; diese Liebenswürdigkeit für echt zu halten, galt als schlechte Erziehung. «
93 . Sa, 21.10., Berlin
Wir wünschen uns eine Praktikantin bei der »Chaussee«, und nun überlegen wir schon, welche Aufgaben sie uns abnehmen könnte, außer Kaffee für die Zuschauer zu kochen. Sie könnte auch jede Stunde die Spam-Einträge aus unserem Internet-Gästebuch löschen. Sie
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