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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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veranstalten, die man zu seinem eigentlichen Fest nicht einladen will, was einem die Verlegenheit erspart, sie mit den richtigen Leuten zusammenzubringen.
    – Plaudernd in einer von seinem Charme angezogenen Gruppe stehen.
    – Mit der komischen Übertreibung eines Bonvivants der Revue die Frauen lieben.
    94 . So, 22.10., Berlin
    Wenn ich wirklich etwas bewahren will, sollte ich meine Zeit nicht damit verschwenden, ständig neue Texte zu schreiben, sondern lieber meine Rechnungen archivieren, die wenigstens ehrlich sind. In einer 250-Gramm-Box »first class – feinster Hochlandkaffee« aus dem VEB Kaffee- und Nährmittelwerke Halle/Saale, die sogar laut Deckel eine »Sonderfüllung Intershop« war, habe ich gestern Kassenbons aus dem Jahr 2000 gefunden, also aus der Zeit zwischen Millenium-Bug und 11. September. Manchmal erinnere ich mich ja nur wegen einer Taxi-Quittung an das Gesicht des Fahrers. Was geschieht in der übrigen Zeit mit seinem Gesicht in meinem Kopf? Aus einem Haufen zusammengeknüllter Zettel ergibt sich eine aufschlußreiche Fieberkurve des Konsums:
    10.1. Staatsbibliothek Potsdamer Platz, 30 DM Kopierkosten. Als studentische Hilfskraft hatte ich den Auftrag, für meinen Professor nach und nach ein Backup des Buchbestands der Staatsbibliothek zu erstellen. Dabei starrte ich müde in das Licht des Kopiergeräts und stellte mir vor, es seien die Blitzlichter der Weltpresse.
    27.1. Fahrkarte Berlin – Stuttgart – Tübingen. Die erste und auch schon schrecklichste Lesereise, auf spätere Enttäuschungen ist man besser vorbereitet gewesen. Ein Preis mußte abgeholt und im Rahmen dessen unter Tarif vor Ort gelesen werden. Ich mußte an zwei Tagen hintereinander dieselben Texte der anderen Preisträger anhören und fragte mich die ganze Zeit, warum sie das Preisgeld aufgeteilt hatten.
    14.2. 10 Meter Antennenkabel bei Medi-Max. Offenbar ein Trostkauf. Ich hatte mir eine Schüssel geleistet und eine Weile nur noch obskure ausländische Fernsehsender auf Hotbird geguckt. Telefonsexwerbung auf Arabisch, das hingehauchte »sifr sifr«. Ich habe sogar mal einen Text über diese Erfahrung geschrieben, ein paar Jahre später machten andere daraus ein erfolgreiches Comedy-Format.
    18.2. A–Z am Alexanderplatz, CPU-Kühler für 29,99 DM. Mich hatte der laute Ventilator an meinem Rechner gestört, und ich hatte ihn mit einem Bleistift abgewürgt, bis mir jemand sagte, daß der Rechner davon kaputtgehen könne. Den A–Z gibt es nicht mehr, ebenso wie den Plattenladen, der in der DDR dort gewesen war und in dem ich einmal wöchentlich einen Kontrollgang machte.
    25.2. 13.47 Uhr, 11,23 DM, Buchhandlung Warschauer Straße, modernes Antiquariat. Ein unscheinbarer Posten, aber es war ein Freitag, ich muß also nach der »Chaussee« im Friedrichshain übernachtet haben. Am Tag danach war man immer tief deprimiert. Wenn es gut gelaufen war, aus Angst, es nie wieder so gut hinzubekommen, und sonst aus Scham. Eine Scham, die offenbar ungefähr 11,23 DM kostete.
    8.4. München, Alte Pinakothek, 34 DM. Besuch beim Verlag? Ich weiß nur noch, wie die Dielen geknarrt haben und daß das bis heute der einzige tröstliche Sinneseindruck in München geblieben ist.
    14.4. In den Schönhauser-Allee-Arcaden bei Herrn Syskowski eine Rolle Ilford Plus 125, schwarz-weiß. Offenbar hatte ich damals noch fotografische Ambitionen, und es gab keine Digitalkameras. Ich muß direkt mal im Kühlschrank gucken, ob der Film noch da ist. Der Entwickeltisch steht in der Kammer, er hatte mir nach einem ersten Versuch immerhin lange als Klorollenhalter gedient.
    3.5. Kopiertechnik Lapacz, Kastanienallee. 558,30 DM. Die erste Brillenschlange, 500 Stück selbst gesetzt, kopiert, geknickt, geheftet und verkauft. Vom ersten Heft wird mir immer in Erinnerung bleiben, daß meine beste Freundin, als ich stolz das Heft hervorzog, kein Interesse zeigte, es mir für 3 DM abzukaufen.
    5.5. Berlin – Heidelberg – Berlin. »Frühlingsnacht der Poesie« im »Deutsch-Amerikanischen-Institut«. Ich sollte »etwas leicht Erotisches« lesen, aber meine Eltern saßen im Publikum. Im anschließenden Zeitungsartikel wurde ich als »Jungspund« bezeichnet.
    8.5. Dussmann, »Ausweitung der Kampfzone«, mein erster Houellebecq, so lange ist das schon her.
    26.5. Ein Einschreiben nach Bulgarien. Das muß die offizielle Einladung für Steffka gewesen sein. Damals brauchte sie noch ein Visum, und ich mußte bei der Polizei garantieren, daß ich alle anfallenden

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