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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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könnte uns, wie der Karatelehrer in »Pink Panther«, nachstellen und dafür sorgen, daß wir genügend Pannen erleben, über die wir dann schreiben. Ein größeres Projekt wäre, das Phänomen der Bleistiftfluktuation in meiner Wohnung zu untersuchen. Es ist nämlich zwar so, daß sich inzwischen ein relatives Bleistiftgleichgewicht eingestellt hat, daß also an allen strategischen Punkten immer ein Bleistift liegt, das heißt aber nicht, daß dieses Gleichgewicht statisch wäre. Ich bin immer wieder erstaunt, wo plötzlich welcher Bleistift auftaucht. Das kann mir aber nur auffallen, weil sie fast alle eine andere Farbe haben, sonst würde es nach Stillstand aussehen. Es ist wie bei einem chemischen Gleichgewicht, wo ständig zwei gegensätzliche Reaktionen ablaufen und man allerhand ausrechnen kann, was man im Leben nie braucht. Unser Lehrer hatte dafür ein Bild, mit dem er Jahr für Jahr den Schülern das Prinzip des Massenwirkungsgesetzes erklärte, das ich aber erst zehn Jahre nach dem Abitur plötzlich verstanden habe. Eine Turnhalle (wieso Turnhalle?), in die man durch eine Luke guckt (warum sollte man das tun?) und in der sich an der Wand entlang eine Reihe Kugeln bewegt (so etwas gibt es doch gar nicht). Wären die Kugeln alle weiß, würde man nicht sehen, daß die Reihe sich ständig im Kreis bewegt. (Warum? Man sieht es doch trotzdem, wenn man genau hinguckt.) Da aber ein paar rote Kugeln darunter sind, sieht man, wenn man durch die Luke zufällig ein Segment mit roter Kugel vor sich hat, wie diese sich fortbewegen. (Aber was hat das mit Chemie zu tun? Warum muß man deswegen in den Formeln plötzlich zwei Pfeile statt einem malen?)
    Jedenfalls befand sich heute völlig überraschend der weiße InterCityHotel-Bleistift aus Magdeburg in meinem Proust, obwohl ich mir doch gerade zwei Grip-2001-Bleistifte von Faber-Castell geleistet hatte, von denen der eine aber inzwischen als Lesezeichen im Kalender steckt und der zweite im Bücherregal als Aufhängung für den Hampelmann. Weitere wichtige Bleistifte in meinem Leben: der Bleistift, der so dünn ist, daß ich damit durch die zu kleinen Löcher der Regalhalter hindurch Punkte an der Wand markieren kann, der Bleistift, der jahrelang den Lautstärke- und Anschaltknopf unseres Familienfernsehers fixierte, der einen Wackelkontakt hatte, so daß wir immer den Stecker zogen, statt den Knopf zu benutzen, trotzdem mußte man ihn regelmäßig ganz sachte antippen. Weitere Provisorien in unserer Wohnung: die an einem Bambusstock über die teure und stümperhaft von einem Feierabendhandwerker ausgeführte Badkachelung gehängte dicke Plasteplane, die verhindern sollte, daß das Wasser die Gipswände durchweichte. Der mit einem um den Kassettenrekorder gewickelten Einweckgummi auf die nicht mehr einrastende Play-Taste gepreßte Radiergummi. Das Zwanzig-Pfennig-Stück, das man auf den Plattenspielerkopf legen mußte, damit er nicht bei jedem Schritt, den man im Zimmer machte, hochhüpfte. Die aus großen, viereckigen Platten zusammengesetzten Wohngebäude, die unser Haus umstanden. Der für die Menschen unsichtbare, und wenn die Berechnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert stimmten, nach unser aller Beglückung sich selbst abgeschafft haben würdende Staat.
    Sodom und Gomorra, S. 90–110
    Die Herzogin über das Palais ihrer Kusine, der Prinzessin: » [I]ch würde vor Traurigkeit sterben, wenn ich in Zimmern schlafen müßte, in denen sich so viele historische Begebenheiten zugetragen haben. Das kommt mir so vor, als sei man im Schloß von Blois, in Fontainebleau oder selbst im Louvre nach Schluß der Führung dageblieben und vergessen worden und könne sich als einziges Mittel gegen die Traurigkeit nur sagen, daß man in dem Zimmer weilt, in dem Monaldeschi ermordet worden ist. Aber ich muß bekennen, mir wäre ein Kamillentee lieber. «
    Weil Swann sich für Dreyfus ausspricht, ist er hier nicht mehr erwünscht. Er gilt ohnehin als einziger Jude, der es in der Gesellschaft so weit gebracht hat. Als notorischer Judenhasser will der Prinz ihm nicht begegnen. Und die Herzogin, die sich doch eigentlich seine Freundin nennt, entzieht ihm sofort die Unterstützung, aber nicht offiziell, sondern subtiler: » Ich schwärme für Charles, und es würde mir großen Kummer machen, ihm etwas abzuschlagen, daher halte ich auch für besser, ich gehe ihm von vornherein aus dem Wege, damit er mich gar nicht erst darum bitten kann. «
    Verlorene Praxis:
    – Ein Fest für diejenigen

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