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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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für eine kleine Literaturzeitschrift hundertfünfzig Kurzgeschichten lesen. Ich hätte gestern einfach nur nein sagen müssen, was mir heute wie eine phantastische Idee vorkommt. Aber ich leide an der romantischen Vorstellung, vielleicht einem jungen Talent, das bisher übersehen wurde, endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei wäre es vom professionellen Standpunkt her viel sinnvoller, sollte mir so ein Talent unterkommen, mit allen Mitteln zu verhindern, daß es seinen Weg macht, denn dann hätte ich ja noch einen Konkurrenten mehr.
    – Das Exposé für ein Sachbuch über die DDR schreiben. (Dabei habe ich die Wahl, dieses Projekt gewissenhaft auszuführen, um das Buch zwei Jahre nach Erscheinen bei Wohlthats auf dem Wühltisch wiederzufinden, oder es so zu machen wie viele andere Sachbuchautoren, und es zwar ebenfalls bei Wohlthats wiederzufinden, aber vielleicht Geld verdient zu haben.)
    – Jeden Donnerstag zwei neue Texte für die »Chaussee«. (Wie oft werde ich gefragt, was ich denn zur Zeit mache. Diesen Punkt erwähnt man nie, weil das irgendwie nicht als Arbeit zählt.)
    – Ein Szenario für einen Comic von Mawil schreiben.
    – Ein Theaterstück für das DT schreiben, das – obwohl sie es nur lesen, weil sie meinen Namen auf dem Manuskript mit dem eines anderen Autors verwechselt haben – so nachhaltig ihre Grundannahmen über das Theater der Zukunft erschüttert, daß sie es sofort anstelle des von mir kürzlich verrissenen Stücks in den Spielplan aufnehmen oder zumindest erst einmal den Spielbetrieb einstellen, bis ich die Zeit habe, mich um sie zu kümmern, also frühestens nach der Latinumprüfung im Februar.
    – »Meine wichtigsten Körperfunktionen« redigieren und um eine mir bis jetzt noch nicht klare, entscheidende Dimension bereichern. So Gott will, wird das mein nächstes Buch und eigentlich müßte es, nachdem alles besprochen war, jetzt schon lektoriert werden, aber der Verlag hat seit einer Weile seine ohnehin spärliche Korrespondenz mit mir eingestellt.
    – Für den erwähnten Nachruftext recherchieren. Erste Anrufe haben eine romanwürdige Konstellation erkennen lassen. Ein mit fast hundert Jahren verstorbener Autor, dessen Wohnung ich aber nicht besichtigen darf, weil die neunzigjährige Schwester, die das Erdgeschoß des Hauses bewohnt, im Streit mit Frau Vampiro liegt, der sizilianischen Pflegerin ihres Bruders, die seine Räume hat versiegeln lassen. Jetzt kann ich mir wieder überlegen, ob ich den Nachruf routinemäßig abwickle und damit auf ungefähr fünfzehn Euro Stundenlohn komme, oder ob ich Schwester und Pflegerin einzeln besuchen gehe und zusätzlich die Bücher des Autors lese, um sein Leben in einen 120-Zeilen-Text zu pressen, wobei ich über das spannende gerichtliche Nachspiel natürlich kein Wort verlieren darf. Aber immerhin hat mir Frau Vampiro in Aussicht gestellt, mich, wenn die Grundbuchfrage geklärt sein sollte, in die Wohnung zu lassen: »Sie konne da rreinschnuffeln.« Das wäre dann ein dritter Besuch, und der Stundenlohn würde weiter sinken.
    Wenn ich all diese beruflichen Attacken aus der fest ausgebauten Stellung eines ereignislosen und emotional unaufwendigen Privatlebens führen könnte, müßte man sich nicht um mich sorgen. Aber bei dem, was sich im Moment bei mir abspielt, kann es jederzeit zum Durchbruch der feindlichen Truppen kommen. Dann hänge ich wieder von hereinsickernden SMS ab wie der Todkranke vom Tropf. Und das alles, damit irgendwann einmal ein junger Zeitungsschreiber, der nichts von mir weiß und nichts von mir gelesen hat, von meiner bulgarischen Pflegerin in meine Wohnung gelassen wird, um dort ein bißchen zu »schnuffeln«, und noch auf dem Rückweg in der S-Bahn zu resümieren: »Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Jochen Schmidt zurückgezogen von der Öffentlichkeit in den Wänden seiner Berliner Wohnung, in der die Zeit stehengeblieben zu sein schien. Er war müde geworden vom gesellschaftlichen Leben, müde auch von den periodisch wiederkehrenden Auseinandersetzungen mit seinen Geliebten, aus denen er jedesmal körperlich weiter geschwächt, aber mit einem neuen Manuskript in der Hand hervorgegangen war. Manuskripten, die natürlich längst niemand mehr drucken wollte. Die Zeit war über ihn hinweggegangen, nur noch wenige Spezialisten erinnerten sich an ihn. Mit hundertzwanzig Jahren hat ein Autor auch die letzten der Leser, die ihn von seinen Anfängen her begleitet haben, an den Tod verloren. Sich so ein

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