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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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wundert sich, was für eine Liebhaberin sein Onkel, der Herzog von Guermantes, sich diesmal ausgesucht hat, » wie alle Leute, die nicht verliebt sind, stellte er sich vor, daß man die Person, die man liebt, nach tausend Überlegungen und nach Maßgabe ihrer verschiedenen Vorzüge und Eignungen erwählt «.
    Unklares Inventar:
    – Zinshahn, » all diese alten Roués «.
    95 . Mo, 23.10., Berlin
    Nachruftermin bei Frau Vampiro in Westend, wo die Geschäfte noch »Schuh Treff« und »Mode Truhe« heißen und ältere Ehepaare im Schaufenster von Tchibo die Angebote studieren. Frau Vampiro hat den Verstorbenen in den letzten Jahren gepflegt, und ich muß nun für die schreiende Ungerechtigkeit büßen, daß er mit seinen sechsundneunzig Jahren zuletzt fast vergessen war, jedenfalls herrscht sie mich immer wieder an. Sie stammt aus Sizilien, ihr Vater ist früh gestorben, und sie hat »meinä Arrnoldä« als ihren neuen Vater adoptiert, spätestens als sie herausgefunden hatte, daß er im selben Jahr geboren war und auch im selben Monat und sein zweiter Name der gleiche war wie der ihres Vaters. Außerdem habe er, genau wie ihr Vater, aus Höflichkeit immer etwas auf dem Teller übriggelassen, es bestehe also kein Zweifel, daß hier das Schicksal am Werk sei: »Verstehen ßie!?«
    Mich trifft es ja immer wie der Schlag, wenn ich mich bei diesen Nachrufterminen in den Wohnungen der Hinterbliebenen in einer Hölle aus Rauchglas, Goldrahmen und Keramik-Nippes wiederfinde. In Wirklichkeit lebt wohl der größte Teil der Menschheit unter solchen Bedingungen, wir sind da keinen Schritt weitergekommen. Bei Frau Vampiro habe ich etwas Neues gesehen: auf der Sofakante arrangierte Porzellantassen, wobei nur die mittlere und die beiden äußeren aufrecht stehen, die anderen liegen seitlich auf der Untertasse, die Öffnung zum Betrachter.
    Ich bekomme dicke Aktenordner mit Korrespondenzen des Verstorbenen vorgelegt, der als Zeitungskritiker und Feuilletonjournalist gearbeitet und Bücher über Thomas Mann, Rilke und Virchow geschrieben hat. Durchschläge von Briefen aus der Nachkriegszeit an Hans Mayer und Thomas Mann (»Wir wollen deutsche Weltbürger sein und sehen mit ihnen, Herr Thomas Mann, in einem Weltstaat den letzten Versuch, unseren Planeten und seine Kultur zu erhalten.« Ob Thomas Mann sich damit einverstanden erklärt hat, die Aufgabe zu übernehmen, den Planeten zu erhalten?) So ist das: am Ende bleiben Aktenordner, die niemand durchsehen will. Sogar eine Leserpostkarte von ’49 an die Redaktion der Zeitung ist sorgsam mit eingeheftet, ein »Oscar Bauernfeind« aus Bayern äußert sich zu einem Artikel des Verstorbenen über die deutsche Kollektivschuld: »Ist ihnen noch nicht klar, daß der einzige Kampf der des Untermenschen gegen den Kulturmenschen ist?« Neben der Briefmarke klebt eine Zwei-Pfennig-»Notopfer Berlin«-Steuermarke, damals hat man die Stadt als Revanchist aus dem Bundesgebiet wenigstens noch finanziell unterstützt.
    Wenn man so alt wird, ist die Gefahr groß, seinen eigenen Ruhm zu überleben: »Wer sprichtä über meinä Arrnoldä? Juberall steht juber dieße Mann aus Turkei, der Preis bekommt für ein Buch nur! Aber meinä Arrnoldä hat ßoviel gemacht für dieße Berlin, dieße Berlin hat immer gerufen, verstehen ßie?« Damit meint sie, daß er immer zurückgekehrt sei in diese Stadt, auch nach der ersten Verhaftung in der Nazizeit. Und das mit der fehlenden Würdigung soll ich nun ändern, indem ich seine Bibliothek auswerte, dutzende Aktenordner mit Korrespondenz durchsehe und die handschriftlichen Tagebücher abtippe und redigiere.
    In seinen letzten Jahren hat sie ihn jeden Abend ins Bett gebracht, und mit ihm »Guten Abend, gute Nacht« gesungen. Er habe sich immer wieder bitter beschwert, daß seine Mutter im Ersten Weltkrieg sein Schaukelpferd versetzt habe. Über die Schläge in den achtzehn Monaten Haft unter den Nazis hat er dagegen nicht gesprochen, niemand wußte, daß er viermal im Gefängnis war. Seinen Peiniger hat er einmal nach dem Krieg in der U-Bahn gesehen und laufen lassen.
    Mit der jüngeren Schwester, die im Erdgeschoß wohnt, hat er sich anscheinend nicht verstanden, er war der Schöngeist, der sich mit Geldfragen und Ämtern nicht befassen wollte, und sie hat sich um das Haus gekümmert. Weil es am Ende mit ihr zu juristischem Geplänkel um das Erbe kam, hat er beschlossen zu sterben und nichts mehr gegessen, sonst hätte er hundert werden können.
    Auf dem Rückweg

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