Schmidt Liest Proust
machen. Leider ist das bei uns Europäern nicht der Fall.
Der Künstler kann, was ihm vorschwebt, immerhin zuweilen in seinem Werk sichtbar machen: » Daher kommt es, daß die Bewunderer dieses Werkes von seinem Urheber enttäuscht werden, in dessen Antlitz so viel innere Schönheit nur unvollkommen widergespiegelt erscheint. « Es wäre ja auch bedenklich, wenn mein Antlitz mehr bewundert würde als mein Werk. – Allerdings habe ich eben doch noch einmal im Spiegel nachgesehen, und ich finde, ein geschultes Auge kann durchaus eine Menge innerer Schönheit auf dem Antlitz des Autors dieser Zeilen widergespiegelt sehen.
Unklares Inventar:
– Midinette, Peri.
Verlorene Praxis:
– Als Frau zum Freund sagen: » Wie nett du bist! Wenn ich jemals so klug werde, so verdanke ich es nur dir! «
131 . So, 3.12., Berlin
An der Pinnwand des Sprachenzentrums hing die auf Russisch verfaßte Anzeige eines Franzosen, der eine gute und anziehende russische Frau zur Gründung einer Familie sucht. Ob das wirklich die beste Idee ist, sei einmal dahingestellt, aber wenn ich schon selbst kein Glück in der Liebe habe, kann ich ja wenigstens für andere den postillon d’amour spielen, weshalb ich die Anzeige hier veröffentlichen möchte:
»FRANZUS (GOWORIT PO-NEMJETZKIJ), ISCHTSCHOT DOBRUJU, PRIWLJEKATJELNUJU RUSSKUJU SCHENSCHTSCHINU DLJA SOZDANIJA SEMI. TEL: 030-0615570 «
So einfach kann es sein, zwei Menschen glücklich zu machen!
Die Gefangene, S. 215–236
Wenn Albertine sich gefügiger zeigt, quält ihn sofort wieder der Gedanke, sich an sie gebunden zu wissen: » Es ist furchtbar, wenn man die Existenz einer anderen Person an sich geheftet sieht wie eine Bombe, die man festhalten muß und nicht fallen lassen darf, ohne damit ein Verbrechen zu begehen. « Wollen wir hoffen, daß sie nicht heimlich in seinen Aufzeichnungen liest, die Stelle findet und selbst eine Bombe wirft.
Für die Leichtigkeit, mit der sie lügt, hat er inzwischen Beweise: » Was sie sagte, was sie gestand, trug so sehr den Charakter der Evidenz […], daß sie dergestalt in die Zwischenräume ihres Daseins Episoden eines anderen Lebens säte. « Aber ist es Lüge, wenn man selbst daran glaubt?
Der Tod von Swann war zwar angekündigt, dann aber so beiläufig vermeldet worden, daß man dachte, es würde noch ausführlicher darauf eingegangen, was aber nicht der Fall war. Man darf gespannt sein, welche der Figuren das Romanende überleben werden. Die Eltern, Gilberte, Saint-Loup, Charlus, Albertine, Marcel selbst? Von einem neuen Opfer wird nun berichtet, denn Bergotte ist verstorben, aber – wie es sich für einen Künstler gehört – auf exzentrische Weise. Der Tod ist ja nur dann gelungen, wenn er die gängigen Interpretationen des Werks auf den Kopf stellt, wenn man mit der Todesgeste seine Verehrer verunsichert und seine Feinde nachdenklich stimmt.
Bergotte hat die letzten Jahre zum größten Teil in seiner Wohnung verbracht und nur manchmal viel Geld für kleine Mädchen ausgegeben, weil die Liebe, oder wenigstens das etwas tiefer gehende Vergnügen, auch wenn sie mit Enttäuschungen enden, seine schriftstellerische Tätigkeit vor der Stagnation bewahrt haben. Und die Rechnung geht ja auch ökonomisch auf: » Ich gebe mehr als Multimillionäre für kleine Mädchen aus, aber die Freuden und Enttäuschungen, die sie mir bereiten, ermöglichen mir, ein Buch zu schreiben, das mir Geld einbringt. « Dafür schlief er nur noch schlecht, in seinen Alpträumen wischte ihm eine böse Frau das Gesicht mit einem feuchten Lappen ab, oder ein wütender Kutscher stürzte sich auf ihn, zerbiß ihm die Finger und sägte sie ab – » einige Jahre relativer Besserung hatte er nur dem Umstand verdankt, daß er sich vollkommen auf seine Wohnung beschränkte «.
Eine Leihgabe des Museums Den Haag, das für eine Ausstellung Vermeers »Ansicht von Delft« zur Verfügung gestellt hat, lockt ihn schließlich doch noch einmal aus dem Haus. Ein Kritiker hatte auf dem Bild eine bemerkenswerte » kleine gelbe Mauerecke « erwähnt, die ihm selbst entgangen war. Vor dem Bild bekommt er einen Schwächeanfall, muß sich setzen und rollt schließlich auf den Boden, wo Museumsaufseher den Verstorbenen umstehen.
Verlorene Praxis:
– Bei seinem Gegenüber einen raschen Rückfall in den Zustand der Ungebändigtheit fürchten.
132 . Mo, 4.12., Berlin
Nun doch eine Staffel von »Curb Your Enthusiasm« besorgt und nicht widerstehen können, mir hintereinander alle zehn
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