Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
erblassen.
    – Bezaubernde, immer wiederkehrende Rückfälle in Einfachheit und Ergebenheit zwischen seine rauschhaften Anfälle von Größen- und Verfolgungswahn schieben.
    138 . Mo, 11.12., Berlin
    Meine Proust-Erfahrung läßt mich Bekannten Fragen stellen, die ich ihnen sonst nie gestellt hätte, nämlich ob sie Proust gelesen haben oder bei welchem Band sie steckengeblieben sind. Ich kenne bis jetzt drei Komplettleser und könnte mir vorstellen, daß sie sich in der Straßenbahn instinktiv erkennen würden, so wie Charlus »Invertierte« ausmachen kann. Komplettleser sind die Ausnahme, aber erstaunlich viele haben es einmal versucht. Einer hat beim fünften Band aufgehört, kurz vor dem Ziel, manche schon im zweiten. Ein Kollege hat sogar die Uni mit einer Arbeit über Proust abgeschlossen, er hat das Buch zweimal gelesen, erst auf Deutsch, dann in Paris im Original. (So habe ich es mit »Borat« gemacht, allerdings war das nicht geplant, ich hatte nur nicht auf den fehlenden OmU-Hinweis geachtet, weil ich nie darauf gekommen wäre, daß man diesen Film synchronisieren könnte. Er war auf Deutsch nicht komisch, wogegen Proust auf Deutsch vielleicht sogar noch an Komik gewinnt.)
    Mein Kollege hat sich damals so intensiv mit Proust befaßt, daß er ihn eifersüchtig für sich allein haben wollte. Zum Glück gehen solche Gefühle Büchern gegenüber meist nicht so weit wie bei Menschen, sonst würde man in fremden Wohnungen Proust-Ausgaben nachspionieren und erst beruhigt sein, wenn sie offensichtlich unberührt im Regal verstauben. Buchhandlungen wären dann so etwas wie Bordelle, in denen sich das käufliche Buch einer Unzahl von Kunden zur Schau stellt, für jeden, der einen Autor liebt, eine unerträgliche Vorstellung. Man könnte wie Jack Lemmon in »Irma la Douce« enden und nachts im Schlachthof arbeiten, um mit dem Geld die Exemplare der Bücher seines Lieblingsautors aufkaufen zu können, bis sie sich geschlagen geben und endlich keine neuen mehr drucken.
    Mein Kollege hat zur Zeit der Lektüre die für ihn intensivste Liebesgeschichte erlebt und wie ich fragt er sich, ob das am Buch lag. Während wir darüber sprechen, gehen wir in der Dämmerung die Kastanienallee entlang, und er bleibt plötzlich stehen, weil die Paletten des Obsthändlers so intensiv nach Holz riechen. Das hätte ich mal wieder gar nicht bemerkt, was bin ich für ein plumper Mensch.
    Er hat damals für seine Proust-Arbeit stapelweise Karteikarten beschrieben, deren Rückseite er inzwischen als Notizzettel verwendet. Jetzt dreht er manchmal in der Kaufhalle seinen Einkaufszettel um und liest ein Proust-Zitat. Das ist eine gute Verwendung für die eigenen Werke, vielleicht sollte ich meine Manuskripte, statt sie an Verlage zu schicken, auch zerschneiden und als Schmierzettel benutzen, auf diese Art würde sich Proust noch auf Jahre in meinen Alltag mischen. Man könnte natürlich auch das Buch zerschneiden. Oder ich versteigere Ende Januar meine annotierte Proust-Ausgabe bei eBay und finanziere mit dem Erlös den Druck (mindestens meine Eltern würden ja aus Mitleid heimlich mitsteigern).
    Die Gefangene, S. 362–382
    Das Buch ist noch nicht zu Ende gelesen, und schon verblaßt die Erinnerung an die ersten Teile. Ich weiß noch, daß Swann seinen Freund Charlus früher dazu abgestellt hatte, mit Odette auszugehen, aber der Charlus des ersten Bands ist inzwischen ein ganz anderer für mich, wir sind gemeinsam alt geworden. In beschwingter, nachfestlicher Laune deutet Charlus im Gespräch an, er habe mit Swann in Internatszeiten … » nun, Sie werden mich nicht dazu bringen, Dummheiten zu erzählen «. Das sind Neuigkeiten! Wieder einmal wird beiläufig eine Information eingestreut, die alles bisherige in ganz neuem Licht erscheinen läßt, immer mehr Gründe sammelt man, das Buch noch einmal von vorn zu lesen.
    Nichts von der drohenden Verdurinschen Verschwörung gegen sich ahnend, läßt Charlus sich auf ein gelehrtes Gespräch mit Professor Brichot über die Geschichte der Homosexualität ein und erweist sich auf diesem Gebiet als wahrer Kenner. Er ist weiß gepudert, hat rot geschminkte Lippen und glaubt einerseits, daß niemand ihn durchschaut, kann aber dem Bedürfnis sich mitzuteilen im Alter immer schlechter widerstehen. Im übrigen fühlt er sich inzwischen schon etwas aus der Zeit gefallen, wenn sogar schon im Kreise seiner Familie Tango getanzt werde. Auch die Kubisten werden erwähnt, wohl damit man ungefähr weiß, in

Weitere Kostenlose Bücher