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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Palace-Hôtel ist von Provinzhonoratioren und ihren mißgünstigen Gattinnen bevölkert. Ein Landjunker aus alter, bretonischer Familie, betrachtet das Haus nur als Absteige, um die befreundeten Schloßbesitzer in der Nachbarschaft zu besuchen. Seine Familie hält sich ebenfalls abseits: » Ihr Hochmut bewahrte sie vor jeder menschlichen Sympathie, vor jedem Interesse an den Unbekannten, die rings um sie saßen und in deren Mitte Monsieur de Stermaria die eisige, eilige, distanzierte, unzugängliche, abweisende und übelgelaunte Miene bewahrte, die man an einem Bahnhofsbüfett inmitten von Reisenden aufsetzt, die man niemals gesehen hat, nie wiedersehen wird und mit denen einen nur die Tatsache in Beziehung setzt, daß man sein kaltes Huhn und seinen Eckplatz im Zuge gegen sie zu verteidigen gedenkt. « (Sechs Adjektive für einen Gesichtsausdruck!)
    Marcel leidet, weil er nicht beachtet wird. Er unterhält sich damit, in den Gesichtern von Menschen aus dem Ort, die Züge von Pariser Bekannten wiederzufinden. Nur einmal nähert sich ihrem Tisch die Madame de Villeparisis, weil sie seine Großmutter erkannt hat. Aber diese findet, daß der Austausch von Höflichkeiten einem im Urlaub die Zeit an der frischen Luft stiehlt und gibt sich kühl. Die Madame » entfernte sich, und ich blieb in meiner Einsamkeit zurück wie ein Schiffbrüchiger, der geglaubt hat, ein Schiff nähme Kurs auf ihn, nachdem es dann wieder verschwunden ist, ohne Anker zu werfen «.
    So weit, wie Marcel sich in seinen Phantasien von der Wirklichkeit entfernt, so genau ist er im Beobachten von Gesten. Die Posen, die die Menschen unbewußt einnehmen. Er beschreibt sie wie ein Verhaltensforscher und benutzt sie wie ein Maler, der im Gegensatz zu ihnen selbst weiß, was seine Figuren darstellen sollen. Der Generaldirektor der Hotelkette erscheint auf Inspektionsreise. » In der Meinung, daß eine von seiner Seite aufs äußerste gesteigerte Kontemplation genüge, um sicher zu sein, daß alles bereit sei und kein Fehler eine Katastrophe herbeiführen könne, und um sich ganz auf seine Verantwortung zu konzentrieren, enthielt er sich nicht nur jeder Gebärde, sondern bewegte nicht einmal seine vor Aufmerksamkeit gleichsam versteinerten Augäpfel, welche die Operation in ihrer Gesamtheit überschauten und lenkten. «
    Nach 811 Seiten gibt es heute endlich den ersten Druckfehler, man verzweifelt ja schon fast, wenn die Suche nicht belohnt wird. Mein Exemplar ist eine Lizenzausgabe von Suhrkamp »für die sozialistischen Länder«, gedruckt im Karl-Marx-Werk Pößneck. Ob die DDR sich einen eigenen Korrektor geleistet hat? Daß es nicht » sei aus dem Aquarium holen « heißt, sondern » sie aus dem Aquarium holen «, ist ihm jedenfalls entgangen. Kleine Fehler, die das Regime am Ende die Macht gekostet haben könnten.
    Verlorene Praxis:
    – Einen Diener vorausschicken, um das Hotel von seiner Person und seinen Gewohnheiten in Kenntnis zu setzen.
    – Sich seinem Mann zuliebe eine gewisse Bildung zulegen.
    – Durch die Kargheit seines rasch ermüdeten Blicks bezaubern.
    40. Sa, 26.8., Alt-Lipchen
    Ursprünglich war ich davon ausgegangen, pro Abschnitt eine halbe Seite zu schreiben, jetzt zeigt sich, daß ich täglich drei Stunden mit Proust verbringe, man könnte es Arbeit nennen. Warum würde es mich lähmen, wenn ich dieselbe Arbeit nicht freiwillig, sondern für ein Studium oder für einen Auftraggeber erledigen müßte? Im akademischen Kontext müßte ich genau die Stellen streichen, die mir am meisten Spaß machen. Man müßte Spekulationen durch Sekundärliteratur absichern und ohne den Resonanzraum der eigenen Erfahrung arbeiten. Ich dürfte also nicht, indem ich über Proust schreibe, über mich schreiben, und das würde der Anstrengung ihren Sinn nehmen. Man könnte natürlich behaupten, daß man als Wissenschaftler auf einer höheren Ebene und viel subtiler über sich schreibt, weil einen blanke Subjektivität unterfordert.
    Der Bauer hatte noch gesagt: Ich hol mir jetztn Bier und vorher jeh ich noch aufs Klo. Dann lag er tot auf dem Klo.
    Der letzte Morgen auf dem Dorf. Es gebe keine mehligen Kartoffeln im Süden. »Cilena, Adretta, Quarta« seien zu empfehlen. Es gibt ein »Saatgutverkehrsgesetz«, man muß bestimmte Sachen anbauen. Ist der Kampf um EU-Fördermittel noch ein dramatischer Stoff wie die Bodenreform für »Die Umsiedlerin«?
    Rührung beim Abschied. Hannah bekommt von ihrer Ferienfreundin einen Brief in den Briefkasten gelegt.

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